Straßenkunst Kabuls „Kunstkönige“ und ihre Wandbilder
Kabul (dpa) - Langsam nimmt das Porträt des Mädchens auf der bröckeligen Lehmziegelwand Gestalt an. Ein rundes, lächelndes Kindergesicht erscheint, ein Kopftuch, Schatten und Flächen in Rot, Grün, Weiß.
Das Mädchen heißt Mursal, es ist 12 Jahre alt. Vor ein paar Jahren hat Mursal nur knapp eine schweren Anschlag auf das Hauptquartier der Nato in der afghanischen Hauptstadt Kabul überlebt. Mursal war damals ein Straßenkind und hat Armbändchen und Schals an die Ausländer verkauft, die bei der Nato ein und aus gingen. Heute steht sie Porträt für die neueste Wandmalerei der „ArtLords“, der Kunstkönige von Kabul, Pioniere der politischen Straßenkunst in Afghanistan.
Die Botschaft von Mursals Porträt richtet sich an alle, die das Land ohne Rücksicht auf Verluste nun wieder mit Krieg überziehen - an islamistische Taliban, Kriegsherren, Milizen: Seht her, dies sind die Menschen, die ihr in die Luft sprengt - ihr tötet, verletzt und traumatisiert Kinder, die Zukunft unseres Landes. Um 15 Prozent ist die Zahl der getöteten und verletzten Kinder allein vom vergangenen auf dieses Jahr angestiegen, heißt es in UN-Berichten.
„So viele Opfer, ständig, überall - man gewöhnt sich so schnell daran. Aber ich will mich nicht gewöhnen“, sagt Omaid Scharifi, der Erfinder der Kunstkönige, ein junger Mann in farbbekleckerten Jeans und blauem T-Shirt. Eines seiner Ziele sei es, sagt er, „die Opfer des Krieges und des Unrechts in Afghanistan aus den Statistiken herauszuholen“ - den Zahlen Gesichter und Namen zu geben.
Sieben Kinder waren insgesamt in der Explosion im Jahr 2012 ums Leben gekommen - auch zwei von Mursals Schwestern, Khurschid, 17, und Parwana, 13. Ihre Namen waren schon in Vergessenheit geraten. Nun stehen sie für jeden sichtbar auf einer Liste neben Mursals Porträt.
Bis vor kurzem hat Omaid Scharifi als Manager eines großen Zivilgesellschaftsprogramms gearbeitet. Dann hat er gekündigt, um die Kunstkönige voranzutreiben. Die hatte er schon im Sommer 2014 mit einigen Freunden gegründet - „damals erstmal nur, um all die hässlichen Sprengschutzwände zu verschönern“, sagt Scharifi.
Denn der Krieg mit den radikalislamischen Taliban, der sich stetig verschärft, hat Kabul zur Festung gemacht. In der Innenstadt wird der Blick an jeder Ecke abgeschnitten von Stacheldraht, Sandsäcken, mit Kies gefüllten Drahtkörben, die Hescos genannt werden und Kugeln stoppen, und eben jene dreimeterhohen Sprengmauern gegen Autobomben, die zur Lieblingsleinwand der Kunstkönige geworden sind. Rund 50 großformatige „ArtLord“-Bilder gibt es heute in Kabul. Die meisten im Zentrum, wo Politiker, Kriegsherren oder Militär sie jeden Tag sehen.
Ihre Botschaften sind mit der Zeit kritischer, politischer geworden. „Wir wollen die Stadt verschönern - aber auch die Menschen zum Denken und Diskutieren anregen“, sagt Omaid Scharifi. Ein Wandbild aus dem November richtet sich gegen Kinderehen. Es zeigt ein Mädchen mit einem Buch in der Hand und der Zeile „Dies ist die Zeit für meine Bildung, nicht meine Ehe“. Nahe dem Ort, wo im März 2015 ein Mob eine junge Frau grausam gelyncht hatte, ist nun ein Bild von einer Gruppe Männer zu sehen mit der Zeile „Ein tapferer Mann respektiert Frauen“.
Eine ältere Serie dreht sich um die allgegenwärtige Korruption in Afghanistan. „Ich sehe Dich“, heißt es unter riesigen Augen, die sich quer über das Tor einer Regierungsbehörde ziehen. Für diese Kampagne haben die Kunstkönige Anfang Dezember in Wien einen internationalen Preis gewonnen, samt Lobrede von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon.
Viele wollen jetzt mit den Kunstkönigen zusammenarbeiten, die UN, internationale Nichtregierungsorganisationen, Botschaften. Aber das nächste Ziel der Kunstkönige ist nicht die Welt, sondern die afghanische Provinz. Bald kommen die Wände in Kandahar dran.