Meinung Europas Fliehkräfte
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich bestens amüsieren über das Europa der Wortspiele. „Grexit“, „Brexit“ — wer ist wohl der nächste „Exit“-Kandidat? Immerhin: Die Einigung der Regierungschefs eröffnet die Chance, dass Großbritannien doch noch den Weg an der Ausgangstür vorbei findet.
Dass die Europäische Union ohne die stolzen Briten auseinanderbrechen könnte, ist zwar spekulative Schwarzmalerei, aber ein fatales Signal wäre der „Brexit“ allemal. In vielen Ländern grassiert die Skepsis gegenüber der Idee vom vereinten Europa. Ein Ausscheren Großbritanniens würde vor allem den diversen rechtspopulistischen Parteien weiteren Aufwind bescheren.
Um dies zu verhindern, erscheinen Kompromisse legitim. Wenn allerdings den Briten nun gestattet ist, neu zuwandernden EU-Bürgern bis zu vier Jahre lang Sozialleistungen zu verwehren, werden einem EU-Mitglied zweifelhafte Sonderrechte eingeräumt. Das ist kein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sondern ein Europa der unterschiedlichen Standards.
Der EU-Gipfel sendet somit eine zwiespältige Botschaft aus. Die nationalen Regierungen haben sich als kompromissbereit und handlungsfähig erwiesen. Doch zugleich bestätigte sich mal wieder, dass dieses Europa nur mit Mühe den Fliehkräften der widerstreitenden Interessen standhält. Die EU kann ihren Laden nur noch mit Ach und Krach zusammen halten. Daran wird sich vermutlich auch dann nichts ändern, wenn die Briten am 23. Juni tatsächlich für den EU-Verbleib stimmen sollten.
Der britische Regierungschef David Cameron will nun „mit ganzem Herzen und ganzer Seele“ dafür kämpfen. Das klingt super. Wer freilich „mit ganzem Herzen“ für die Sache eines einigen Europas kämpfen will, der muss sich vor allem in der Flüchtlingspolitik bewegen. Das ist der eigentliche Lackmustest. Gelingt hier kein ebenso humaner wie für alle erträglicher Kompromiss, ist Europa wirklich am Ende.