Meinung System der schleichenden Abschreckung
Es läuft nicht so, wie alle dachten. Nicht so, wie die CDU-Wahlkämpfer gehofft haben. Nicht so, wie Horst Seehofer gefordert hat. Der Brüsseler EU-Gipfel hat in der Flüchtlingsfrage keine Entscheidung gebracht.
Nicht einmal Hinweise für die von Angela Merkel vorher angekündigte Zwischenbilanz. Und das liegt nicht am Ausfall des Treffens der „Koalition der Willigen“ wegen des Anschlags in Ankara. Dieser Termin wird nachgeholt. Es liegt daran, dass längst eine andere Lösung praktiziert wird: Die schleichende Abschreckung der Flüchtlinge.
Die Reise nach Europa wird so schwer gemacht, dass die Betroffenen den Mut verlieren sollen. Erst kommt die verstärkte türkische Strandüberwachung, anschließend schlagen in der Ägäis Frontex und Nato zu. Danach müssen auf dem Balkan zahlreiche Zäune überwunden werden. Tagelanges, wochenlanges Warten. Keine Aufnahme nirgends. Neuerdings auch nicht mehr in Österreich, das nun auch den Zaun baut. Freilich, Abschreckung funktioniert nur, wenn der Schrecken, der vor den Menschen liegt, größer ist als der, in dem sie leben. Es ist eine Kette, die eine große Schwachstelle hat — an ihrem Anfang.
Es wird von der Türkei und den Gesprächen mit ihr abhängen, ob die Flüchtlinge wirklich in dem Land gehalten werden können, freiwillig oder mit Zwang. Wenn nicht, gerät zunächst Griechenland ins Chaos. Dann aber erreicht das Problem schon direkt Deutschland. Denn die Balkan-Länder winken die Flüchtlinge, die sich nicht abschrecken lassen, für den Transit durch. Das ist tolerabel, so lange es nur relativ wenige sind, wie in diesen Tagen. Deswegen müssen die CDU-Wahlkämpfer mit der unklaren Situation wohl leben, deswegen muss auch Horst Seehofer mit seiner Verfassungsklage gegen die eigene Regierung noch warten. Denn was soll der Gang nach Karlsruhe, wenn das Problem nicht so stark brennt?
Ein Ausweis besonderer Humanität ist es freilich nicht, wenn man die anderen die Drecksarbeit machen lässt. Das neue System scheitert aber sofort, wenn der Ansturm wieder größer werden sollte. Weil es wärmer wird. Oder weil der Krieg in Syrien eskaliert. Dann gibt es dramatische Szenen auf dem Balkan und dramatische Rufe in der deutschen Politik, nun als letztes Land auch die Grenzen zu schließen. Das Wetter, der Kriegsverlauf und die Türkei entscheiden also, wie es weitergeht. Das Wetter ist in dieser Konstellation übrigens die verlässlichste Größe.