Meinung Wir. Schaffen. Das.
Ein Jahr "Wir schaffen das". Mit "Wir" meinte die Kanzlerin ihre Regierung, die Verwaltung, die Freiwilligen, letztlich alle Deutschen. Und die Europäer. Flüchtlingsströme über Kontinente hinweg, wohlorganisiert von Schleppern, sind ein Phänomen unserer Zeit.
Man kann sich nicht aussuchen, ob man sich dem Problem stellt, es steht vor der Tür. Man kann allerdings sagen: "Wir wollen das nicht schaffen", wir wollen Ausländer nicht, schon gar nicht solche. Das tun viele Deutsche und ganze europäische Regierungen, es ist per se nicht illegitim. Allerdings ist es inhuman und außerdem schändlich, ganz sicher für Länder, aus denen selbst mal viele geflohen sind, wie aus Ungarn oder Ostdeutschland. Und für Länder, denen es materiell an nichts fehlt.
Die Regierung des leistungsfähigsten europäischen Landes konnte sich im Sommer 2015 jedenfalls nicht verweigern. Denn Zäune in Bayern hätten den Treck der Trostlosen zurückstauen lassen bis nach Griechenland, hätten ein humanitäres und politisches Chaos auf dem ganzen Balkan verursacht. Es ist Merkels historische Leistung, einer solchen Versuchung, anders als andere deutsche Politiker, zu keiner Sekunde erlegen zu sein.
Die Zahl derjenigen, die sich hinter diesem humanitären, ehrenvollen "Wir" versammeln, sinkt. Aber das Flüchtlingsthema ist, wie die aktuelle Situation in Süditalien zeigt, nicht gelöst. Die nächste Welle rollt über das Mittelmeer schon an. Eine europäische Lösung, bei der dir Lasten fairer verteilt werden, bleibt eine zentrale Herausforderung, zumal Deutschland nicht noch einmal allein den Ausputzer spielen wird. Einer solchen Lösung ist die Kanzlerin seit dem letzten Sommer jedoch nicht näher gekommen.
"Schaffen" hieß vor einem Jahr: Die Ärmel aufkrempeln. Hunderttausende Freiwillige taten es; die Verwaltung aber zeigte organisatorische Schwächen. Es fehlte an Flexibilität, Pragmatismus und Schnelligkeit. Aber die Lernkurve ist steil. Man denke nur an die vielen Gesetzespakete und an die zahlreichen neuen Stellen.
Das "Das" beschrieb die Größe der Aufgabe. Es ist zu bezweifeln, dass Angela Merkel sie damals schon begriff. Es sind eben nicht nur Gebildete und Arbeitswillige gekommen, mit denen sie ihre Selfies machte. Sondern, wie die Ereignisse von Köln und die Anschläge gezeigt haben, auch Desperados, Kriminelle und Terroristen. Und viele Rückständige. Das ist unterschätzt worden. Die Integration in den Arbeitsmarkt wird dauern, die in die Gesellschaft noch länger. Immerhin stellt sich die Politik dieser Aufgabe aktiv, statt sich wie früher bei den Gastarbeitern der Illusion hinzugeben, die Menschen würden nach einer Weile schon wieder verschwinden. Wohin denn auch? Bei der Integration kann man noch nicht sagen: Wir schaffen das. Sondern nur: Wir müssen das schaffen.