Hirntumor: „Ich habe fünf Geburtstage im Jahr“

Dass Ralf ten Haaf den Jahreswechsel erlebt, nennt er Glück. Und die nächsten Hoffnungsdaten folgen.

Burscheid. Irgendwo in Greetsiel an der ostfriesischen Nordseeküste feiert Ralf ten Haaf Silvester. Er wird mit seiner Frau, der stellvertretenden Landrätin und einstigen SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Claudia Seydholdt, anstoßen. Und dann, um Mitternacht, hat er es geschafft: Das Jahr 2008 ist erreicht - wider alle statistische Wahrscheinlichkeit.

Man könnte es ein Wunder nennen. Aber dazu gehört in der Regel jemand, der es vollbringt. Und Glaubensfragen waren ten Haaf noch nie eine Stütze, auch wenn er sich gefreut hat, als ein Leidensgenosse in der Kur zu ihm sagte: "Und für dich Ungläubigen bete ich auch." Nein, ten Haaf hält es lieber mit dem Begriff Glück. Das klingt angesichts der Diagnose verwegen: Mit Glück hat ein Hirntumor zunächst einmal relativ wenig zu tun.

Es ist Mitte Oktober 2005. Ralf ten Haaf hat Schweißausbrüche, ihm wird schwindelig, mit dem Auto schafft er es nicht mehr bis nach Hause. Ein drohender Herzinfarkt wird vermutet, der SPD-Kommunalpolitiker verbringt drei Tage auf der Intensivstation in Opladen. "In der ersten Nacht hatte ich Todesängste und dachte, die Nacht überstehst du nicht." Eine Computertomografie (CT) wird nicht gemacht. Der Tumor bleibt unentdeckt.

Nach der Entlassung machen sich schleichende Veränderungen breit: hier eine Konzentrationsstörung, dort ein paar Minuten länger im Bad, da eine Verspätung. "Aber das war mir egal." Doch die Ausfälle werden immer gravierender: An Tagen, wo er denkt, er sei arbeiten, liegt er stattdessen nur im Bett. Er kann sich kaum noch unterhalten und bekommt keine ganzen Sätze mehr heraus.

Am 20. Mai 2006 wird ten Haaf erneut untersucht - ohne Ergebnis. "Nur vorsichtshalber" entschließen sich die Ärzte zu guter Letzt noch zu einer CT-Aufnahme. Danach geht alles ganz schnell. Noch am selben Tag wird er nach Merheim verlegt, zwei Tage später operiert. Aus dem rechten Vorderschädel entfernen ihm die Spezialisten einen neuneinhalb Zentimeter großen Tumor.

Für die Operationskunst wird der heute 52-Jährige den Ärzten Zeit seines Lebens dankbar bleiben. Die praktisch nicht vorhandene psychosoziale Betreuung aber bezeichnet er heute als "eine der unglaublichsten Erfahrungen": "Du wirst mit einer sehr schweren Erkrankung völlig allein gelassen."

Wie schwer sie ist, das muss sich ten Haaf Stück für Stück selbst zusammenreimen. Es sei kein gutartiger Tumor gewesen, erfährt er, "nicht ungefährlich". Es fällt das Wort Glioblastom, "aber niemand hat mir gesagt, was das bedeutet". Heute weiß ten Haaf: Es handelt sich um den bösartigsten Hirntumor, den es gibt, von der Weltgesundheitsorganisation in den höchsten Gefährlichkeitsgrad4 eingestuft. Die durchschnittliche Lebenserwartung nach Diagnose beträgt ein Jahr; bei Ralf ten Haaf muss man ab Oktober 2005 rechnen. Statistisch bewegt er sich schon im einstelligen Prozentbereich. "Je länger ich lebe, desto mehr werde ich zum Exoten."

Hier kommt das Glück ins Spiel, so wie es ten Haaf seither versteht. Glück, weil er überhaupt operiert werden konnte, was bei 50 Prozent der Patienten wegen der Lage des Tumors im Gehirn schon nicht möglich ist. Glück, weil es praktisch nie gelingt, den Haupttumor komplett zu entfernen, in seinem Fall aber schon. Glück, weil die Chemotherapie, die er neben seinen 35 Bestrahlungen erhalten hat, oft schon an der Bluthirnschranke scheitert. Und wenn sie dann doch bis ins Hirn vordringt, wird ihr Wirken häufig durch ein körpereigenes Enzym konterkariert, das die zerstörten Zellen schnell wieder aufbaut - auch die bösartigen. Bei ten Haaf arbeitet dieses Enzym offenkundig nicht.

Doch das Glück ist ein zerbrechliches. Auch wenn es keine Metastasen gibt, der Tumor gilt nach wie vor als nicht heilbar. Man weiß inzwischen, dass er mit winzigen Teilchen, die auch durch die hochsensible Magnetresonanztomografie (MRT) nicht nachzuweisen sind, das gesunde Gewebe infiltriert. "Keiner kann mir sagen, machen Sie das oder das, dann werden Sie geheilt."

Für Ralf ten Haaf heißt das, sein Leben gliedert sich in einen Dreimonatsrhythmus: von MRT-Untersuchung zu MRT-Untersuchung. Im Dezember ist wieder nichts entdeckt worden. Der nächste Gang in die Röhre folgt im März. Der Lohn der physischen wie psychischen Tortur: geschenkte Lebenszeit. "Im Grunde", sagt er, "habe ich fünf Geburtstage im Jahr."

Im Mai 2006, nach der Operation, hat er gewünscht, noch seinen 52. Geburtstag zu erleben. "Und jetzt habe ich gute Chancen, 53 zu werden." Er bemüht sich, ein so normales Leben zu führen wie möglich. "Aber es ist schwer, einen Lebenssinn und eine Lebensperspektive zu finden mit dem Bewusstsein, es lohnt sich kaum."

Einen ersten schweren Schritt hat ten Haaf gerade seit wenigen Monaten geschafft: das Eingeständnis, dass nichts mehr so wird wie früher. Nie war er krank, jetzt ist nach vier Stunden die absolute Belastbarkeitsgrenze erreicht. Große köperliche Anstrengungen sind nicht mehr möglich, eine berufliche Tätigkeit im einst üblichen Umfang auch nicht.

Aber er will nicht dasitzen "wie das Kaninchen vor der Schlange"; er sucht sich Aufgaben, er hofft auf einen Teilzeitjob, er informiert sich über seine Krankheit, "denn es macht mich ruhiger, das Thema nicht zu tabuisieren". Oft genug beschleicht ihn nämlich das Gefühl, Krebs werde im Kontakt mit anderen als Makel oder gar Bestrafung angesehen. "Der größte Halt", sagt ten Haaf, "ist meine Frau." Beide haben keine Geschwister und keine Kinder, seine Eltern sind bereits tot. "Wenn unser Verhältnis nicht so intakt wäre, wüsste ich nicht, wie ich dann damit umgehen würde."

Gäbe es irgendwo einen Strohhalm, ja, er würde ihn ausprobieren. Aber er könne auch hinnehmen zu erfahren: Es gibt nichts. Das sind die Momente, wo er sich selbst wieder seinen Begriff vom Glück einschärft: "Erfreue dich an dem Zustand, den du hast. Lebe bewusster. Sei dankbar für die Zeit, die dir geschenkt wird. Und mach was aus der Zeitspanne, die dir bleibt."