Kein Abschied am Ende des Weges

Fünf Jahre hat Inge Kuka einen behinderten Jungen gepflegt. Als er starb, konnte sie ihn nicht beerdigen.

Burscheid. Irgendwann haben die Ärzte die Herztöne leiser gestellt. Damit Inge Kuka nicht hört, wie das Leben mehr und mehr aus dem schmächtigen Körper von Ugur-Can weicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nie einen Menschen sterben sehen. Und jetzt gleich diesen Jungen mit seinen gerade zehn Jahren. Nicht ihr Junge, nein. "Aber er war für mich wie ein eigenes Kind."

Fünf Jahre hatte sie den schwerbehinderten Ugur-Can gepflegt. Seit dem 28.Mai 2003. Das Datum weiß sie heute noch genau. Damals hat sie ihn einfach aus dem Krankenhaus mitgenommen, weil sie gesehen hat, dass es mit der Mutter nicht mehr ging. Seit Januar 2004 war sie dann offiziell die Pflegemutter. "Mir wurde immer gesagt, ich habe die gleichen Rechte wie die Eltern."

Heute weiß Inge Kuka: Spätestens nach dem Tod gilt das nicht mehr. Ugur-Can stirbt an einem Freitag an den Folgen einer Entzündung der Herzkranzgefäße. Vier Tage später muss die 57-Jährige über einen guten Freund erfahren: "Das Kind ist weg." Vom Vater im Leverkusener Krankenhaus abgeholt zur Beisetzung in der türkischen Heimat. Ein Abschied in Würde war für Inge Kuka nicht möglich.

Seither ist sie nur noch ein Nervenbündel: Im Schmerz hat sie in ihrer Wohnung gewütet, sie fühlt sich missbraucht, allein gelassen, benutzt "als billige Arbeitskraft" - von Ugur-Cans Eltern und deren Angehörigen, den Behörden, von allen. Nur auf die Freunde Jürgen und Ruth sei immer Verlass gewesen.

16 Jahre alt war Ugur-Cans Mutter, als der Junge mit den vier Löchern im Herzen geboren wurde. Der Sauerstoffmangel als Folge von neun Monaten mangelhafter Behandlung hinterließ bleibende Schäden. Die junge Türkin ist mit der Pflege überfordert, trennt sich später von Ugur-Cans Vater und lebt eine Zeitlang wieder mit ihrem früheren Schulfreund zusammen, Inge Kukas Sohn. Seit Mai 2003 ist sie ganz abgetaucht, hat ihren Sohn nie wieder besucht. Auch der Vater, so erzählt es Kuka, sei nur wenige Male im Jahr kurz vorbeigekommen und habe mit dem Jungen gespielt.

Kuka, die nach der Wende aus Sachsen-Anhalt ins Rheinland kam, muss sich allein durchbeißen. Um Pflege- und Kindergeld kämpfen. Um Betreuung für den Jungen, wenn die Arbeit ruft. Um jede Minute Freizeit für sich. "Ich habe nur noch für das Kind und nach seinen Bedürfnissen gelebt." Ugur-Can für einen Urlaub mal ins Heim zu bringen, das hat sie nie übers Herz gebracht.

Seit Jahren hat der behinderte Junge die Martin-Buber-Schule in Kuhle besucht. Dort hat man seiner Pflegemutter in dieser Woche eine kleine private Trauerfeier ermöglicht. Das war eine nette Geste der Anteilnahme, Linderung für den Schmerz war es nicht.

"Entsetzt" sei man innerhalb der Kreisverwaltung über das Verhalten des Vaters, sagt Pressesprecherin Birgit Bär. Aber das Kreisjugendamt habe nichts verhindern können. "Als Pflegemutter hat man in der Regel nicht das Sorgerecht." Mit dem Tod, so brutal das klingt, ist das Recht von Pflegeeltern verwirkt. Moralisch-menschlich sei der tragische Vorgang zwar unmöglich, so Bär. "So einen Fall hatten wir hier noch nie." Doch dem Kreisjugendamt bleibe nichts anderes als der Pflegemutter "für ihre hervorragende Pflegearbeit zu danken".

In ihrem Gefühlschaos hilft das der Trauernden aber auch nicht weiter. "Mein Leben", sagt sie, "ist total aus der Bahn gerissen."