Düsseldorf Kultur Dostojewskij im unterhaltsamen Abendformat

Premiere im Central: Großartige Schauspieler erzählen und kalauern sich durch den Roman „Der Idiot“.

Foto: Matthias Horn

Düsseldorf. Dostojewskijs „Der Idiot“ hat knapp 1000 Seiten. Es wird geliebt und gefeilscht, gehasst und gemordet — großes Gefühl im verschwenderischen Ausmaß eines russischen Romanciers. Allein die Namen der Generäle, Kaufmänner und Mätressen nehmen den Platz mehrerer Zeilen ein. Die Geschichte von Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin schafft ein Schnellleser nicht mal eben nach dem Abendessen. Regisseur Matthias Hartmann bietet Abhilfe.

Zwar dauert seine gelungene Inszenierung, die bereits im Januar Premiere in Dresden hatte und nun im Central zu sehen ist, auch seine vier Stunden. Aber die Schauspieler springen — wenn es an der einen oder anderen Stelle zu weit führen würde — elegant aus ihrer Rolle und landen ein paar hundert Seiten weiter in der nächsten Szene. Sie erzählen den Zuschauern und sich gegenseitig, was Fürst Myschkin, diesem feinsinnigen und mitfühlenden Mann, der wegen seiner Geisteskrankheit Jahre in einem Schweizer Sanatorium zugebracht hat und nun mit nichts außer sich selbst nach Russland zurückkehrt, widerfährt.

Ihre Selbstbeschreibungen beginnen mit Name, Alter, Seelenzustand und äußerer Erscheinung. „Der Idiot“ selbst verzichtet auf diese sehr unterhaltsame Charakterisierung. Er ist ein Idealist, der die Menschen, die ihm begegnen, in ihren Zwängen und Sehnsüchten erkennt, nicht über sie urteilt und ihre Schmerzen zu lindern versucht.

Erst halten ihn die korrupten und kaputten Damen und Herren der Gesellschaft für absonderlich, dann können sie ihm gar nicht nahe genug kommen und stürzen ihn mit ihrer maßlosen Liebe in erneute qualvolle Nervenzustände. Dem Spiel der Darsteller, die zum großen Teil mit dem neuen Intendanten von Dresden nach Düsseldorf gewechselt sind und nun zum Ensemble der Stadt gehören, ist es zu verdanken, dass der Abend fast immer die Balance zwischen wahrhaftigem Mitgefühl, ironischem Kommentar und gekonntem Klamauk hält. Es ist wirklich sehr komisch, wie Rosa Enskat als frustrierte Generals-Gattin dem Publikum vorführt, dass sie in dramatischen Situationen effektvoll den Kopf in den Nacken wirft und dabei die Augen aufreißt. Kurz drauf vermag sie es, ihre Sehnsucht mit einem hinreißend gesungenen russischen Lied anrührend durch den Raum zu schicken.

Der Wechsel zwischen den Ebenen geht unversehens, manchmal innerhalb eines Satzes. Und wenn der vor Liebe rasende Parfion (Christian Erdmann) sich die Haare rauft und zum Messer greift, passt es dennoch zum Ton der Aufführung, dass er einen Augenblick später Myschkin selbstreflexiv fragt: „Was denkst du darüber?“ André Kaczmarczyk spielt diesen sensiblen Geist, dem die Glieder schlottern, wenn seinen Nächsten Unrecht geschieht und den seine Gabe, das Gute in den Menschen zu sehen, am Schluss den Mörder seiner Verlobten tröstend in den Armen wiegen lässt.

Der 30-Jährige schafft das mit seiner feingliedrigen Zartheit so glaubhaft, dass man am Ende seiner Worte einen Moment braucht, um sich aus dieser unendlich traurigen Verzweiflung über die Unmenschlichkeit der Menschen zu lösen. Die Schauspieler haben sich an diesem langen Abend den begeisterten Applaus verdient. Sie wecken große Lust, sie noch in vielen weiteren Rollen zu erleben. Auch wenn Regisseur Matthias Hartmann, als geschasster Intendant des Wiener Burgtheaters nicht gerade ein Liebling in der Theaterszene, den Beifall offensichtlich mehr braucht als das Ensemble.

Selbst als es die Darsteller schon längst wieder hinter die Bühne zieht, nötigt er sie, sich noch mal und noch mal mit ihm zu verneigen. Hier möchte sich jemand zeigen, der nach eigenem Empfinden zu lange nicht mehr beachtet wurde.