Düsseldorf Düster und rührend: So klingt der Herbst
Beim New-Fall-Festival begeistern am Wochenende Marianne Faithfull im Capitol-Theater und Boy in der Tonhalle.
Düsseldorf. Auch wenn sie nach eigener Aussage nur einen fröhlichen Song mit ins Capitol-Theater gebracht hat: Marianne Faithfulls Konzert zum 50. Bühnenjahr gerät am Samstag nicht zur Trauerfeier. Dafür sorgt Faithfull selbst, die mit pechschwarz-britischem Humor und herrlichen Anekdoten aus einem wahrlich bewegten Künstlerleben durch den Abend führt.
Körperlich angeschlagen von schwierigen Hüft-OPs bestreitet die Britin ein Großteil des Konzerts im Sitzen. Singt, krächzt, schluchzt ihre zum Großteil selbst geschriebenen Texte ins Publikum. Kraftvoll, nachdrücklich, gestikulierend. Da steht eine, die sich noch immer Gehör verschaffen will, wenn sie von Religionswahn, Vagabunden und destruktiven Beziehungen singt.
Ein Liebeslied könne sie unmöglich schreiben, und tat es letztlich doch. „Love more or less“ klingt eingängig und sanft, hebt sich aber dennoch von vielen Popballaden im Mainstream ab. Diese markante, gebrochene Stimme macht einfach den Unterschied. Verglichen zu den Songs ihres aktuellen Albums „Give my love to London“ klingen die großen Klassiker „As Tears go by“ oder „Broken English“ sperriger und düsterer arrangiert. Jeden davon singe sie heute noch gerne, auch die „Ballad of Lucy Jordan“.
Natürlich ist auch ihre Drogen-Vergangenheit Thema. „I have a new drug song“ verkündet sie euphorisch. Das zerbrechliche „Late Victorian Holocaust“ hat sie sich von Nick Cave maßschneidern lassen, die Ballade „Deep Water“ haben beide zusammengeschrieben. „Das ist kein Lied, sondern ein Zauberspruch. Für einen Freund, der unheilbar krank war.“ Heute ginge es ihm wieder gut, der Zauber hat gewirkt, und doch: Faithfull ist nach dem Song kurz benommen. „Weil die Angst um ihn wieder hochkam.“
Große Emotionen gepaart mit britischer Coolness: Diese Mischung macht das Gastspiel der 68-Jährigen im Rahmen des New- Fall-Festivals zu einem außergewöhnlichen, intensiven Konzerterlebnis. Als „unkaputtbar“ oder „unverwüstlich“ wird sie von Kritikern schon seit Jahrzehnten bezeichnet. Und doch: Es soll ihre letzte große Konzertreise sein.
Schon am Freitag gehörte das Frauenduo Boy zu den Höhepunkten: Der Schriftzug „We Were Here“, der im Bühnenhintergrund über ein großes Tuch flirrt, ist zwar der Titel ihres aktuellen Albums. Aber mit der Realität hat er natürlich nichts zu tun. Denn Boys Musik ist eine Musik, die im Hier und Jetzt wurzelt. Sprich: im Leben. Und Leben passiert in diesem Moment. Sie waren nicht hier - sie sind hier, beim New-Fall-Festival, und singen sich Frust und Freude, Leid und Liebe von der Seele. Mit einem Dröhnen und Klopfen, das durch Mark und Bein geht.
Mädchenpop und Schmusemucke hört man manche Leute nörgeln, wenn sie über Valeska Steiner aus Zürich und Sonja Glass aus Hamburg reden. Die beiden Mädels, die sich - aus welchen Gründen auch immer - englisch „Junge“ nennen. Und ja: Steiners Stimme hat etwas unheimlich Anrührendes an sich.
Und wenn sie singt, dann singt sie gerne über Jungs, die sie abgeschossen hat, weil die doch nur auf die schnelle, linke Tour aus gewesen waren. Über Träumereien von einer Flucht unters nächtliche Himmelszelt mit Kuscheln am Lagerfeuer. Über den tristen Morgen nach der exzessiven Party, an dem man sich die Bettdecke am liebsten bis zur Stirn hochziehen will. So ist es nun einmal, das Leben.
Aber im Falle von Boy kommt es eben nicht mit dickem Schmalz-Aufstrich und in fette Romantik-Soße getunkt daher. Es hämmert sich vielmehr - hinter all den wunderbaren Gesangsmelodien und abseits der Balladen - hinein in den Kopf mit einer Macht, die den beiden Schlagzeugern geschuldet ist, die das Duo neben Gitarrist und Keyboarder mitgebracht hat.
Den Rest erledigt Glass’ dunkler, breiter, warm wummernder Bass-Teppich. So klingt der Herbst - der „Fall“. Und wenn eine Musik aus Deutschland und der direkten Umgebung in den vergangenen Jahren je nach Indiepop geklungen hat, dann ist es die von Boy. Dass die beiden Boy-Damen bei dem, was sie da tun, stets klauen - geschenkt. Natürlich hört man Kings Of Leon raus und U2, Death Cab For Cutie und Coldplay.
Aber wer so geschickt und ausgewählt klaut, der hat kein Nörgeln, sondern dickes Lob verdient. Düsseldorf spendet es in der ausverkauften Tonhalle mit tanzenden Menschen und viel Applaus.