Stadt-Teilchen Das Wellenbad an der Grünstraße: Verschwundene Orte, verschwundene Zeiten

Düsseldorf · Unser Gastautor erinnert sich an die Erlebnisse im einstigen Wellenbad, dort, wo heute das Stilwerk steht. Es sind nicht nur schöne Erinnerungen.

Das Wellenbad an der Grünstraße war ein Stückchen Chaos in einer Welt, in der es zu funktionieren galt.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Manchmal stehe ich auf der Grünstraße vor dem Stilwerk und wundere mich. Ich stehe da und sehe etwas, das nicht mehr so ist, wie ich es kannte, wie ich es erlebt habe, als ich mich aufmachte, diese Welt zu entdecken. Früher war hier das Wellenbad, und ich habe viel Zeit in dieser aus meiner Ansicht sehr großzügigen Menschenbefeuchtungsanlage verbracht. Wie riesig das Gebäude war, mit vielen Treppen und verwinkelten Gängen zu den Umkleidekabinen, zu den Duschen und dann raus und runter ins Badeparadies, wo alle naselang eine Stimme aus dem Lautsprecher ankündigte, dass das Wasser nun bald in Unruhe versetzt werde. „In fünf Minuten beginnt der Wellenbadbetrieb“, hieß es dann, und dann haben wir uns langsam aber sicher an den Platz begeben, an dem man das Wellenerlebnis am besten genießen konnte.

Kurz vor der Kette, die den Nichtschwimmerbereich vom Schwimmerbereich trennte, war der beste Platz, weil sich dort aus unserer Sicht die Wellen am höchsten auftürmten. Wir haben dann jedesmal erwartungsvoll gewartet und gewartet und gewartet und gelernt, dass fünf Minuten auch verdammt lang sein können. Wenn es dann losging und die Stimme verkündete, dass es nun aber losgeht, dann haben wir uns todesmutig in die Wellen geworfen. Wir haben uns treiben lassen oder sind mitten durch die Wellen getaucht. Ein toller Spaß war das, purer Spaß, nichts als Spaß, ein feuchter Traum im schönsten Sinne.

Natürlich waren die Wellen ein Witz verglichen mit dem, was man an manchen Atlantikstränden erleben kann. Aber was interessierte uns das? Für uns waren diese Wellen das Größte, ein kleines Stückchen Chaos in einer Welt, in der wir als Kinder vor allem zu funktionieren hatten. Wenn die Eltern etwas anordneten, hatten wir zu folgen. So einfach war damals das pädagogische Konzept. Nichts zu spüren von der Fürsorglichkeit, die Kindern heutzutage erfahren.

WZ-Kolumnist Hans Hoff.

Foto: NN

Wenn ich heute manchmal Mütter und Väter sehe, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmern, dann werde ich gelegentlich ein bisschen wehmütig. Ich denke dann, dass ich auch gerne solche Eltern gehabt hätte. Eltern, die sich kümmern um die Kinder, die Kinder nicht als etwas betrachten, was irgendwie so nebenher mitläuft.

Nicht dass mich meine Eltern vernachlässigt hätten. Keine Rede. Sie waren für ihre Zeiten die besten Eltern, die man haben konnte, aber es waren eben andere Zeiten. Meinen Kumpels ging es kaum anders als mir. Wir waren quasi gezwungen, uns selbst zu erziehen, und manchmal erzog uns halt die Straße. Schlecht war das nicht immer, manchmal aber schon.

Die Durchsage bevor es losging: „In fünf Minuten beginnt der Wellenbadbetrieb“.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Wir lernten früh, wie man Regeln aushebeln konnte, wie man einfach tat, was man tun wollte, zuhause aber dann vormachte, man sei brav den Regeln gefolgt. Gute Elterntäuschung war die Paradedisziplin unter uns Straßenkindern, wir holten halt raus, was rauszuholen war. Wir wollten niemandem Böses, aber manchmal waren wir etwas mehr als nur die kleinen Strolche.

Das zeigte sich besonders im Wellenbad, als wir etwas größer wurden und Hormonschübe unsere Körper zu verändern begannen. Plötzlich ging es nicht mehr nur darum, einander zu jagen, plötzlich war da noch etwas anderes im Spiel. Wir wussten lange nicht, was es war, aber wir folgten schon früh dem Diktat der Hormone. Dann suchten wir im Wellenbad nicht mehr den Platz, wo man am besten in die Wellen tauchen konnte. Wir suchten stattdessen eine günstige Position in der Nähe von Frauen, die ahnungslos ihren Spaß haben wollten und nicht ahnten, dass sie als Objekt ausersehen waren.

Aus heutiger Sicht betrachtet erfüllte unser Tun den Tatbestand der sexuellen Belästigung, denn wir nutzten die Wellenkraft aus und ließen uns gezielt an die Busen der Damen treiben. Natürlich haben wir uns sofort entschuldigt. „Oh, Verzeihung“ haben wir gesagt, aber unter uns Jungs gab es halt den Wettbewerb, in dem jener gewann, der die erregendste Berührung vermelden konnte.

Für uns hatte das nichts Böses, für uns war es einfach das, was sich aus unserer Orientierungslosigkeit ergab. Was sollte man schon tun in dieser Stadt, wenn die Eltern sich nicht kümmerten, weil sie arbeiten mussten, und viel zu viel Tagesfreizeit für die Kinder blieb?

Einmal hat einer von uns eine Angelschnur mitgebracht, und dann haben wir uns nach einem Wellenbadbesuch an eine der Brücken über den Kö-Graben postiert. Wir haben die Schnur mit Köder ins Wasser gelassen und waren sicherlich selbst am meisten erschrocken, als plötzlich ein dicker Karpfen dranhing. Wir zogen den heraus und waren so entsetzt über das, was wir getan hatten, dass wir einfach wegliefen und den japsenden Karpfen liegenließen.

Ich überlege manchmal, wie es wäre, wenn meine Kinder so etwas täten, wenn sie heimkämen und berichteten, sie hätten im Schwimmbad Frauen begrabscht oder Fische gequält. Ich wäre zu Recht entsetzt, und ich würde mich fragen, was ich falsch gemacht hätte.

Irgendwann verlor dann das Wellenbad seinen Reiz. Als unser Taschengeld ausreichte, um im übers Schwimmbecken ragenden Balkoncafé ein Getränk zu bestellen, war auch dieser Traum bald Wirklichkeit und damit ausgeträumt. Außerdem kamen uns Jungs zunehmend solche Herren verdächtig vor, die sich in den Duschräumen übertrieben lange wuschen. Als wir begriffen, worum es diesen Männern wirklich ging, hatte das Wellenbad endgültig seine Unschuld verloren.

Ich bin danach nur noch selten an der Grünstraße schwimmen gegangen, und als dann das Wellenbad abgerissen wurde, habe ich nur mit den Schultern gezuckt. Ist halt so, habe ich mir gedacht.

Vielleicht war ich aber auch hoffnungsvoll, dass mit den Mauern des Bades auch die Erinnerungen an reichlich unrühmliches Tun im Schutt versinken würden. Wenn es das Haus nicht mehr gibt, gibt es auch unsere Untaten nicht mehr, dachte ich wohl.

Falsch gedacht. All das geht mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich heutzutage durch die Grünstraße gehe und vor dem Stilwerk stehen bleibe. Ich bin dann verwundert, dass die Missetaten von einst doch nicht weggegangen sind, dass sie nach rund 50 Jahren immer noch als ein Hauch von schlechtem Gewissen mein Hirn durchwabern.

Dann stehe ich da, schaue an der Fassade hoch, und in meinem Kopf meldet sich eine vertraute Stimme. „In fünf Minuten beginnt der Wellenbadbetrieb.“