Ballett-Premiere: Schläpfers Compagnie bietet Tanzkunst in Vollendung

In Düsseldorf feierte das Publikum den neuen Ballettabend von Martin Schläpfer.

Foto: Gert Weigelt

Düsseldorf. Impulsiv greift Martin Schläpfer nach dem Stuhl. Er zieht ihn hinter sich her und stellt ihn weit hinten im Zentrum der Bühne ab. Dort nimmt er Platz vor einer dunklen Wand, ein dämmriger Himmel, nicht mehr ganz Nacht und doch noch nicht Morgen. Es ist die vielleicht vielversprechendste Zeit am Tag, denn die Welt ruht noch, ein neuer Aufbruch jedoch steht kurz bevor.

Mit 54 Jahren betritt der Düsseldorfer Ballettdirektor und Chefchoreograf Martin Schläpfer die Bühne noch einmal als Tänzer und offenbart seinen Schaffensprozess, den er tatsächlich meist in die frühen Morgenstunden legt. Das zauberhafte Stück trägt den Titel „Alltag“ und feierte am Freitagabend mit zwei weiteren Balletten in der Düsseldorfer Oper eine umjubelte Premiere. Kreiert wurde „Alltag“ von Hans van Manen, was eine kleine Sensation ist, denn der 82 Jahre alte Niederländer ist einer der wichtigsten Erneuerer des europäischen Tanzes.

Seit Jahrzehnten choreografiert er nicht mehr außerhalb der Niederlande. Dass er seinem langjährigen Freund Martin Schläpfer jetzt eine kleine Uraufführung schenkte, ist ein Zeugnis seiner Anerkennung von dessen Arbeit.

Und diese Arbeit beginnt sehr einsam. Der Choreograf sucht eine Komposition, lauscht der Musik, bis sich aus ihr ein Grundgerüst für eine Idee herauslöst. Erst allmählich wird ein großes Ganzes daraus, das die Primaballerina Marlucia do Amaral als Schläpfers Alter Ego ordnet und beflügelt. Das Publikum erlebt einen Martin Schläpfer, der nicht zur Ruhe kommt. Rastlos im Schöpfen nimmt er die Verfolgung jenes Bewegungsvokabulars auf, das ihm, zunächst isoliert, von der Musik zugetragen wird. Zu der puristischen Klaviersonate von Manuel Blasco de Nebra (1730-1784) und Ausschnitten von Mahler, Schubert und Bach markiert er die Soli, springt, begibt sich ins Penché, dreht Pirouetten und Fouettés. Von der Muskelverletzung, die er sich während der Proben am Oberschenkel zugezogen hat, ist nichts zu spüren. Jeder Schritt sitzt. Der Perfektionist Schläpfer weiß, wie weit er gehen darf, nachdem er vor mehr als 20 Jahren seine Karriere als Tänzer aufgab. Von seinem kurzen Intermezzo 2012 in „The old man and me“ abgesehen.

„Alltag“ befindet sich im Zentrum des dreiteiligen Ballettabends. Die Uraufführung, welche die Psychologie der choreografischen Arbeit auffächert, wird eingerahmt von zwei Stücken, die als große Compagnie-Werke angelegt sind: Die sehnsuchtsvolle „Serenade“ von George Balanchine nach der Musik von Tschaikowsky und „Brahms Symphonie Nr. 2“ von Martin Schläpfer. Ursprünglich sollte eine Uraufführung des jungen Choreografen Terence Kohler den Abend beschließen. Kohler wurde jedoch krank, also brachte Schläpfer seinen Brahms. Eine Symphonie wie gemacht für diese außerordentliche Compagnie, denn das musikalische Gebilde, von den Düsseldorfer Symphonikern unter Jochem Hochstenbach zu vollkommener Dichte gebracht, scheint die Leistung der Tänzer noch einmal anzutreiben. Marlucia do Amaral dehnt in einem herausragenden Solo mittels ihrer Bewegungen scheinbar die Zeit. Sie zeigt, wozu ein Körper in der Lage ist, so man ihn denn beherrscht. Bei dem neuen Ballettabend erleben die Zuschauer, wie darstellende Kunst ihre höchste Form erreicht. Eine Kostbarkeit auf deutschen Bühnen und in Düsseldorf ohnehin. Die Zuschauer würdigten dies mit einem nicht enden wollenden Applaus und stehenden Ovationen.