Stadt-Teilchen Altern? Das ist was für die anderen

Düsseldorf · Unser Gastautor hatte ein einschneidendes Erlebnis, das ihm schonungslos aufzeigte, dass er nun nicht mehr zu den jungen Leuten gehört. Sondern zu den anderen.

Nicht jeder ist bereit fürs Älterwerden. Eine 94-Jährige etwa antwortete einst auf die Frage, ob sie denn nicht einen Rollator verwenden wolle, mit den Worten: „Das ist was für alte Leute“.

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Kürzlich hätte ich in der Bahn fast mal einen jungen Mann geschlagen. Nein, ich habe es natürlich nicht getan. Ich habe nicht einmal meine Hand erhoben, aber innerlich war ich kurz davor, beinahe gewalttätig zu werden. Ich merkte, wie sich meine Zahnreihen derart aufeinander pressten, dass auch die beste Aufbissschiene kein angemessener Schutz mehr gewesen wäre. Und dann wollte ich…

Ich habe es dann selbstverständlich gelassen, denn ich bin ein sehr friedfertiger Mensch. Das letzte Mal, dass ich Gewalt angewendet habe, war vor 46 Jahren. Da war ich süße 17 und hatte einen Ferienjob in einer Derendorfer Messebaufirma zusammen mit etlichen Kumpels und anderen Gestalten. Eine von diesen anderen Gestalten hatte mich damals auf dem Kieker. Bei jeder passenden und erst recht bei jeder unpassenden Gelegenheit zwirbelte er mir einen Spruch rein, der mich erniedrigen sollte. Jedes Mal jaulte meine juvenile Seele verletzt auf, aber äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Ich war quasi der Gandhi unter uns Jungs.

WZ-Kolumnist Hans Hoff schreibt dieses Mal über das Altern.

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Das ging so lange gut, bis die anderen anfingen, auf mich einzureden. Ich könne mir das doch nicht länger gefallen lassen; je länger ich mir das gefallen ließe, desto häufiger werde der mich doch angehen, hetzten sie. Ich merkte nicht, dass sie hetzten, ich fühlte aber sehr deutlich, wie ich unter zusätzlichen Druck geriet. Von der einen Seite wurde ich mit bösen Sprüchen malträtiert, auf der anderen Seite stieg der Zwang, endlich etwas dagegen zu tun.

Heute könnte ich das prima als warnendes Beispiel verkaufen und zeigen, wie Staaten in Konflikte schliddern, die niemand will außer jenen, die daran verdienen. Als 17-Jähriger merkt man aber nicht so leicht, wenn man instrumentalisiert wird, und so kam es, wie es kommen musste. Beim nächsten Spruch schlug ich zu. Mit der Faust. Direkt auf die Nase.

So hatte ich es als Bilker Jung oft leidvoll erfahren müssen. Wie oft habe ich als Heranwachsender auf die Nase bekommen. Bilk in den 60er Jahren halt.

Zuerst merkte ich, dass meine Faust höllisch brannte. Im nächsten Augenblick sah ich, was ich angerichtet hatte. Dem Geschlagenen lief das Blut in dickem Strom aus der Nase. Ich erschrak derartig, dass ich erst einmal gar nichts tun konnte. Ich verfiel in eine Art Panikstarre. Als ich aus der erwachte, schnappte ich mir ein Handtuch und reichte es meinem Gegner, der es sich unter die Nase hielt.

Ich fragte reumütig, ob ich etwas für ihn tun könnte. Nein, nein, das gehe schon, sagte er. Das sei schon in Ordnung. Auf besondere Weise wirkte er, als empfinde er die von mir ausgeübte Gewalt als adäquate Reaktion auf sein Verhalten, als hätte er das, was ihm nun widerfahren war, durchaus verdient.

Ich verstand das nicht und fühlte mich dreckig, beschmutzt von mir selber. Ich sah, was Gewalt auslöste. Blut, Schmerz und schlechtes Gewissen, nichts Schönes dabei. Ich weiß nicht, ob der Geschlagene sich heute noch an unsere Auseinandersetzung erinnert. Wir haben uns aus den Augen verloren. Ich hoffe, er hat das alles vergessen.

Ich dagegen renne immer noch mit einem schlechten Gewissen durch die Gegend, weil ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle halten konnte, weil ich so doof war, wie man als 17-Jähriger nur sein konnte. Seitdem weiß ich, wie ich plötzliche Testosteronschübe in friedliche Bahnen lenke. Innerlich bis Zehn zählen, mich selbst kneifen, kurz die Haare raufen, dann geht das schon. So wie in der Bahn, wo der junge Mann, dem ich meine Aggression zu verdanken hatte, gänzlich ohne Ahnung blieb von dem, was in mir vorging.

Was hatte der junge Mann getan? Es ist mir etwas peinlich, das zu erzählen, aber er hatte mir seinen Platz angeboten. Mir, dem ewigen jungen Hans, dem Verwalter des Juvenilen, der nur aus Versehen ein Geburtsdatum im Ausweis stehen hat, das auf ein Alter jenseits der 60 hinweist. Warum bietet dieser Jüngling ausgerechnet mir einen Platz an? Sehe ich so alt aus, wie ich bin? Was ist das für eine Unverschämtheit? Ist mir ja noch nie passiert. Ich bin jung, mir bietet man keinen Platz an. Alten Leuten bietet man einen Platz an, aber mir doch nicht.

Als ich mich beruhigt hatte und die Friedenstruppen in mir wieder die Oberhand errungen hatten, dachte ich über das Ereignis nach. Ja, es hatte geschmerzt, als alt eingeordnet zu werden. Alt sind halt immer die anderen, niemals ich.

Ich erinnerte mich, wie ich schon vor ein paar Jahren, da war ich noch 59, bei einem Arzt zu einer Routineuntersuchung vorbeischaute. Diese Chance nutzte der Mediziner und bot mir eine Grippeschutzimpfung an. Die sei empfohlen für ältere Menschen. Ich weiß noch, dass ich kurz versucht war, mich umzuschauen, ob da irgendwer hinter mir stände, den der Arzt sicherlich gemeint hatte. Ältere Menschen, das waren die anderen. Aber niemals ich.

Doch, ich war gemeint. Ich muss mich ganz offensichtlich damit abfinden, nun alt zu sein. Wer, wenn nicht ich? Mir half ein wenig die Erkenntnis, dass Mozart und Beethoven mein jetziges Alter gar nicht mehr erlebt hatten, dass der Mensch an sich gar nicht dafür gemacht ist, älter als 40 oder 50 zu werden, was etliche meine Zipperlein erklären würde, sie aber nicht viel weniger unerträglich machten.

Begegnungen mit jungen Menschen werden inzwischen zunehmend zu deprimierenden Momenten. Wenn ich dort erzähle, dass ich noch lineares Fernsehen auf einem richtigen Fernsehgerät anschaue, werde ich von oben bis unten gemustert. Kürzlich musste ich einem jungen Menschen erklären, wer die Beatles waren. Danach schaute er mich so an wie ich früher meinen Opa ansah, als der vom Krieg berichtete. Auf Veranstaltungen, wo ich einst regelmäßig als der Jüngste durchging, suche ich Gleichaltrige inzwischen vergeblich. Ich bin dort der Älteste. Wäre ich ein weiser Indianer, müsste ich nun langsam Vorkehrungen treffen, demnächst auf einen hohen Berg zu steigen und von dort nicht mehr zurückzukehren.

Gottseidank liegt Düsseldorf im rheinischen Flachland, keine nennenswerten Berge weit und breit. Mir fiel dann eine sehr agile 94-Jährige ein, die häufiger mal gestürzt war und deshalb einen Rollator angedient bekam. Den hatte sie aber abgelehnt mit den Worten, das sei ja nur etwas für alte Leute. Was habe ich gelacht.

Diese Erinnerung half mir, mein Schicksal anzunehmen. Man ist halt so alt wie man sich fühlt, sagte ich mir und hasste mich im selben Moment selber. Was für ein abgelutschter Spruch, dachte ich. Dass ich den mal denken würde. Ich wurde wieder wütend, aber es half nichts. Mir blieb nur die Entschlossenheit, das jetzt in Würde hinzukriegen.

Ich beschloss, dem Alter nichts mehr beizumessen. Tief in mir drin bin ich halt immer noch der leicht verunsicherte 17-Jährige, der die Welt entdecken will. Dem kann das Alter nichts anhaben. Der bleibt ewig jung und lächelt der Zahl auf der Geburtstagstorte frech ins Gesicht. Alt sind die anderen. Ich niemals.