Neuer Anfang in Kempen Ein Neustart am Niederrhein
Kempen · In Haiti leitete Milca Dieujuste eine Vorschule. Doch auf der Karibikinsel tobt ein Bandenkrieg. Als Kriminelle auf ihr Haus schossen, beschloss die junge Frau, ihre Heimat zu verlassen. Wie sie in Kempen Fuß fasst.
Im Januar 2010 erschütterte ein verheerendes Erdbeben die Karibikinsel Haiti. Etliche Gebäude wurden zerstört, Hunderttausende starben. In Kempen am Niederrhein kam im Religionsunterricht einer Maurerklasse am Rhein-Maas-Berufskolleg die Idee auf, den Menschen in Haiti zu helfen. Seither fahren Auszubildende und Lehrer des Kollegs um den Kempener Berufsschulpfarrer Roland Kühne nach Haiti, um dort gemeinsam mit Einheimischen Häuser zu bauen, die der Unterbringung und Ausbildung junger Menschen dienen. Ein Teil dieser Initiative „Schüler bauen für Haiti“: eine Vorschule und eine Schule, geführt nach dem pädagogischen Konzept Maria Montessoris.
Diese Vorschule leitete Milca Dieujuste, die in Haiti eine Montessori-Ausbildung absolvierte und unter anderem am Lehrerausbildungszentrum dort tätig war. Die Vorschule soll die Kinder auf den Schulbesuch vorbereiten, die erste Klasse für Dreijährige startete vor fünf Jahren. Unter anderem lernen die Kinder dort Französisch, „es wird in der Schule gesprochen, die Muttersprache ist Kreolisch“, erklärt Dieujuste. Die Kinder von damals sind heute in der zweiten Klasse der Primarschule.
Doch das Leben in Haiti ist gefährlich. Unruhen erschüttern die Karibikinsel immer wieder, zuletzt hatte das Team der Initiative „Schüler bauen für Haiti“ eine Reise zu Ostern verschieben müssen, weil es wieder gewalttätige Ausschreitungen gab. Banden sollen inzwischen rund 85 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren. Vor wenigen Tagen erst gab es Medienberichten zufolge drei Tote, als mutmaßliche Bandenmitglieder bei der Wiedereröffnung des Generalkrankenhauses Haitis einen Anschlag verübten. Anfang Dezember soll ein Bandenchef die Ermordung von mindestens 110 überwiegend älteren Menschen angeordnet haben, nachdem sein Sohn erkrankte und ein Voodoo-Priester ihm sagte, dass ältere Menschen den Sohn mit einem Zauber krank gemacht hätten. „Es ist so schwer, einem Land zu helfen, in dem solche Kräfte eine Rolle spielen“, sagt Roland Kühne.
Geflohen vor der
Gewalt Krimineller
Vor dieser Gewalt in Haiti floh die heute 34-jährige Dieujuste: Als sie noch die Vorschule leitete, seien Gangster gekommen, berichtet sie. Diese hätten auf das Haus geschossen, in dem sie wohnte, „ich habe mich im Badezimmer versteckt.“ Warum die Kriminellen kamen? Sie wollten wohl Geld, vermutet Dieujuste. Sie habe zunächst weitergearbeitet, doch die Gangster seien wiedergekommen. Sie habe nicht schlafen und nicht essen können, „ich hatte Luft in meinem Land, aber ich konnte nicht atmen“, sagt sie: „Ich habe zu Gott gesagt, sag mir, was ich tun soll, ich brauche einen Weg.“ Und dann habe sie Pfarrer Roland Kühne angerufen, Vertreter der Initiative „Schüler bauen für Haiti“, „ich habe gesagt, so geht das nicht mehr, ich gehe.“ Leicht sei ihr das nicht gefallen: „Es war schwer für mich, diese Entscheidung zu treffen, weil ich alle verlassen musste, um in Sicherheit zu sein.“ Zu ihrer Mutter, die in Port-au-Prince-lebt, habe sich nicht gehen können. Gerade in der Hauptstadt sei es besonders gefährlich.
2022 kam sie nach Kempen, absolvierte zunächst ein Jahr im Freiwilligendienst an der Kita St.-Peter-Allee. Seit 2023 absolviert sie nun eine Ausbildung zur Erzieherin, praxisorientiert am Berufskolleg in Kempen und in der Kita. In Haiti bildete sie pädagogische Lehrkräfte aus und leitete eine Vorschule, am Niederrhein fängt sie nun noch einmal von vorne an. Die Unterschiede seien groß, berichtet sie: „Hier kommen die Kinder schon mit sehr viel Wissen in die Kita. In Haiti ist das anders: Dort sind die Eltern oftmals sehr jung und nicht gut ausgebildet. Mütter haben oft viele Kinder, und die Väter kümmern sich nicht darum. Was die Kinder wissen müssen, lernen sie in der Vorschule.“
Was sie vermisst, wenn sie an Haiti denkt? „Das Meer, die Berge, das Geräusch der Hühner und der Geruch von Kaffee.“ Sie wolle weiterhin ihr Land unterstützen, den Kindern dort helfen, „wenn ich die Möglichkeit habe, in mein Land zu fliegen und dort zu helfen, werde ich das tun.“ Es brauche Bildung, damit Kinder eine Zukunft hätten, sagt die 34-Jährige, und vielleicht gelinge es so, dass auch die Kinder in Torbeck eine bessere Zukunft bekämen.
Zwei- bis dreimal die Woche sei sie nun in Kempen in der Kita, spiele mit den Kindern, lache mit den Kindern. Die Kinder seien nett, die Eltern höflich. In Kempen habe sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein, das Gefühl, dass morgen nicht schlechter, sondern besser werde, „hier kann ich als Frau ohne Probleme unterwegs sein“, fügt die 34-Jährige an. Sie könne beispielsweise einkaufen gehen, ohne dass sie sich umdrehen müsse, um zu schauen, ob da Gangster seien, „ich liebe Kempen.“
Allein die Sprache sei für sie eine Herausforderung gewesen, erzählt Dieujuste. Um Deutsch zu lernen, besuche sie eine Sprachschule, kaufe Bücher und versuche, ihren Weg für die Zukunft zu finden. Inzwischen spricht sie fließend Deutsch. „Ich schreibe auch gern. Früher habe ich das in Französisch getan, heute versuche ich, in Deutsch zu schreiben. Ich schreibe meine eigene Geschichte. Wenn ich es später lese, kann ich dann vielleicht sagen: ,Schau, es war nicht einfach, aber ich habe es geschafft.‘“