Innenstadt Neumarkt ist Marktplatz der Moderne
Vor 300 Jahren entstand ein neues Zentrum in Krefeld. Noch heute ist es der zentrale Platz.
Ab dem 16. Jahrhundert wächst Krefeld explosionsartig. Bietet es 1678 noch den Anblick eines ummauerten Dorfes, platzt es ab 1702 unter preußischer Herrschaft durch den Zuzug von Glaubens- und Wirtschaftsflüchtlingen in kürzester Zeit aus allen Nähten. Krefelds wirtschaftliche Kraft wächst und so wird 1711 das Städtchen zum zweiten Mal erweitert: In voller Breite und von der heutigen Marktstraße bis zur Stephanstraße nach Süden. Dadurch wird Krefeld schon rechteckig, lediglich im Nordwesten verrät eine bauchige Ausbuchtung weiterhin den mittelalterlichen Teil der Stadtmauer, und der „neue Markt“ liegt in der Mitte.
Die Krefelder Architektin Claudia Schmidt und Stadtforscher Georg Opdenberg spazieren in der zweiten Folge der WZ-Serie vom mittelalterlichen Zentrum, dem Alten Markt beziehungsweise Schwanenmarkt, zum heutigen Neumarkt.
„Der Neumarkt wird als einziger Platz in Krefeld von den Menschen erlebt und belebt“, sagt Opdenberg. Zu jeder Tageszeit überqueren Menschen den Platz, verweilen in den Cafés oder gehen von hier aus in eins der angrenzenden Geschäfte. „Es ist beeindruckend, noch heute am Neumarkt zu sehen, dass hier eine Stadtstruktur entstand, in deren Systematik mit kleinen Variationen weiter gebaut worden ist“, sagt Schmidt. „Mit der ersten barocken Erweiterung ist eine italienische Rasterstadt entstanden, mit einer Hauptstraße, der heutigen Hochstraße in der Mitte, parallel dazu schmalere Straßen, gekreuzt von der heutigen Dreikönigenstraße und in der Mitte anstelle des Stadttors ein neuer Marktplatz.“ Die Hochstraße hat im mittelalterlichen Stadtkern bis heute ihren original gekrümmten Straßenverlauf behalten. In der neu hinzugefügten Stadt wird sie schnurgerade verlängert. Dies ist gut zu erkennen beim Blick vom Neumarkt in Richtung Norden und Süden.
Mit der Gründerzeit wächst der
Neumarkt in die Höhe
„Die unaufgeregte und ebenmäßige Architektur der barocken Stadterweiterung mit ihren traufständigen Häusern ist bis zur Gründerzeit erhalten geblieben, und weist Paralellen zu Potsdam auf“, sagt Schmidt. Kein Wunder: Die holländischen Baumeister im Dienste des preußischen Königs legten auch in Krefeld Hand an. „Mit Beginn der Gründerzeit 1870 konnte dann jeder so bauen, wie er wollte.“ Die Ebenmäßigkeit des Platzes verschwindet, die Traufhöhe wächst in die Höhe. Das erste reguläre Kino, das „Lichtspielhaus am Neumarkt“, eröffnet im August 1912. Es war das erste Kino im Reich mit einem hohen Spannbogen und ohne Stützen und bot gut 1000 Zuschauern Platz. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde das Kino nochmals aufgebaut, 1965 aber endgültig geschlossen. Hier entsteht auch das erste Kaufhaus Krefeld in der „Ozeandampfer-Architektur“ des Bauhauses.
„In der Zeit des Nationalsozialismus wollte das Stadtplanungsamt den ‚architektonischen Exzessen’ Einhalt gebieten und die Symmetrie des Platzes wieder herstellen“, erzählt Schmidt. Wegen des Kriegsbeginns kam es nicht dazu, nach dem Krieg wurde das Stadtplanungsamt neu besetzt. Schon in den 1940er-Jahren setzten sich die Krefelder Bürger für den Wiederaufbau ein. „Die neuen Stadtplaner hingegen wollten am liebsten Tabula rasa machen.“
In Schmidts Augen fehlt dem Neumarkt heute die architektonische Einheit. Die Baulücken sind nicht geschlossen, weil man sich darauf beschränkt hat, die Ladenlokale wieder aufzubauen, bis heute aber nicht in Wohnungen darüber investiert, obwohl über die Rückseiten der Zugang für Bewohner möglich ist. Auch stehen die Häuser optisch nicht mehr auf dem Boden. Heute sind unten die Läden mit großen Schaufenstern, und die sichtbaren Häuser beginnen erst in einer Höhe von vier Metern. Die Trennung der Fassaden vom Erdgeschoss wird noch verstärkt durch Vordächer und Markisen, die zum Beispiel beim Café Extrablatt quer über die Pfeiler der Architektur verlaufen, und ihr damit „die Beine“ abschneiden.
Auch 300 Jahre später ist auf dem Neumarkt Krefelds Geschichte ablesbar. Im Pflaster markieren ein Edelstahlband und dunklere Granitplatten die Umrisse des frühen Fischelner Stadttores. „Wegen des Straßenverlaufs müsste es eigentlich etwas gedreht sein“, sagt der gelernte Vermesser Opdenberg.
Bei Bauarbeiten auf dem Neumarkt 1962 wurde ein solides und exakt gebautes Fundament gefunden, das wuchtig genug war, ein Tor zu tragen und zwei Türmchen an den Seiten dazu. Die Fundamente reichten bis 3,30 Meter unter das heutige Straßenniveau. Im Boden der Krefelder Innenstadt ist vielerorts Krefelds Geschichte vergraben.