„Kein Frühling kann strahlender sein!“, heißt es in einer Tagebuchaufzeichnung zum 15. April 1945 des Haaner Schriftstellers Emil Barth. Seit 13 Uhr schweigt das Feuer der Artillerie, „das während der ganzen Nacht und am Vormittag unsren Horizont umbrandete und von Osten und Süden her stündlich nähergerückt ist“. Es gibt Unruhe in der Stadt. Schon morgens herrscht ein „fieberhaft richtungsloses Hin- und Herfahren auf allen Straßen und ein wahrer Trubel in der Stadt; sie liegt vollgepfropft von Truppen, Wagen, Pferden, und wohin man hört, vernimmt man nur eine Stimme: keine Möglichkeit eines Widerstandes mehr“.
Militärische Formationen sind nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe. Es fehlt Munition, viele Waffen und Geschütze sind schon zunichte gemacht. „Die Orgie der Selbstvernichtung geht zu Ende“, schreibt Emil Barth. „In einer Seitenstraße am Ufer eines kleinen Teichs konnte man vorhin den Kommandierenden General (…) allein über einer Karten brütend sitzen sehen, während sein Fahrer im abgestellten Wagen halboffenen Mundes erschöpft schlief, malt Barth mit Worten das Bild des gescheiterten Feldherrns.
Sonntagnachmittags kommt sogar freudige Stimmung auf — die Bevölkerung hat einige Tage zuvor eine Sonderzuteilung Alkohol erhalten. Vor dem Barth-Haus (Bahnhofstraße 62) lagert ein Trupp Soldaten und gibt sich „kirmeshafter Ausgelassenheit hin“. Der Schnaps lässt die Misere des Augenblicks vergessen. Zwei Hornisten blasen vom schönen Zigeunerleben. Mitternacht ist vom Befehl des „Widerstands bis zum letzten Atemzug“ zu hören. Offiziere, die heimlich Entlassungspapiere ausgestellt haben, werden mit Hinrichtung bedroht. „Von Elberfeld und Solingen her fallen unaufhörlich weitere Truppenteile zurück und sammeln sich in der Heide und der weiten Senke bis zum Neandertal“, notiert Barth. „Der letzte, innerste Ring der blutigen Treibjagd ist erreicht“. Die Reste der eingekesselten Armeegruppe wird auf 70- bis 80.000 Mann geschätzt.
Am 16. April 1945, einem Montag, nahm der Artilleriebeschuss schon kurz nach Mitternacht zu „und tastete sich mit wenigen Feuerschlägen auch an unsere Stadt und zumal unsere Straße heran, das Krachen krepierender Granaten erfolgte in so bedrohlicher Nähe, dass wir eilends den Keller aufsuchen mussten“ — „vielleicht, vielleicht zum letztenmal!“
Die Schicksalsstunde, die die Menschen „seit Monaten zwischen Bangen und Hoffen erwartet hatten“, kam am Vormittag völlig überraschend“. „Die Panzer kommen! Die Panzer sind da!, Straße frei!, In die Keller!“ — dunkle, hallende, warnende Rufe von Männern, hohe Schreie aus Frauenkehlen und das schrille Geschrei von Kindern. „Seit diesem Augenblick weiß ich, was Panik heißt“, notiert Emil Barth. Am Fenster sammelt er Eindrücke, die er später mit Worten zu einem dramatischen Bild verwob. „Die Straße glich dem Bett eines reißenden Stromes, bis auf die Bürgersteige überschwemmt von Massen flüchtender Menschen, die in blinder Angst um ihr Leben liefen, von der schon nahe heranlangenden Peitsche knatternder Maschinengewehre gehetzt. Von der Bahnhofsgegend nahm das Brausen zu.“
Die Beschreibung Barths lässt auch acht Jahrzehnte später die Lage deutlich werden: Der Menschenwildbach wälzte „sich unter wütenden Stauungen straßauf, Zivilpersonen jeden Alters und Geschlechts vermengt mit den in panischer Auflösung fortgerissenen Truppen, Soldaten aller Waffengattungen und jeden Ranges, von denen einzelne sich die Zeit nahmen, mit einem wütend-hoffnungslosen Schlag gegen einen Bordstein oder eine Mauerecke ihr Gewehr zu zerbrechen, andere im Laufen, im Überklettern von Gartenzäunen, im Stürzen und Sichwiederaufraffen ihre Stahlhelme oder Mützen vom Kopf rissen, ihre Pistolen fortschleuderten, sich des Koppels entledigten, ja, in nicht geringer Zahl ihren Waffenrock abstreiften, worunter bereits das Blau eines Monteursanzugs oder sonstiges Zivilzeug zum Vorschein kam.“
Während Wehrmachtsautos unaufhaltsam beschleunigten, „peitschten stehend die Fahrer von Fouragewagen unter Hetz- und Warnrufen ihre Pferde, fegten, preschten, galoppierten herrenlose Gespanne und ledige Gäule mit hocherhobenen, apokalyptischen Köpfen dahin“. — „Dies also war der Augenblick, der unser Schicksal besiegeln würde?“, stellt Barth fast ungläubig fest.
Während Barth den Keller erreichte, kamen die ersten Panzer auf der Höhe des Hauses der Familie an, „fortwährend feuernd“. Rasch zog der Kampflärm stadteinwärts weiter. Trotz prasselnder Maschinengewehrgarben „umarmten wir alle einander in überströmendem Dankesgefühl und küßten uns, unsäglicher Kuß, der das Ende der blind-sinnlosen Herrschaft von Tod und Vernichtung besiegelte und ein erster Anhauch der Süße des Friedens war“.
Nach und nach kamen frühere deutsche Soldaten aus den Kellern und Höfen — „barhäuptig, waffenlos, niedergeschlagenen Blicks und Augen voll blanker Todesangst hin- und herwendend, beide Hände erhoben oder über dem Scheitel, dem Nacken zusammengelegt (…) und bewegten sich unter den drohend auf ihre Brust, in ihren Rücken gerichteten Maschinenpistolen und Gewehren der Amerikaner dicht an den Zäunen der Vorgärten und Häuserfronten entlang, straßabwärts, entgegen der immer noch unaufhaltsam brausenden Strömung von Panzer- und Kampfwagen“.
Als auch die Zivilisten sich aus den Kellern trauten, bot sich ihnen eine abscheuliche Szene: „Ein von Geschossen getötetes Pferd lag am Straßenrand, noch in der Deichsel des Jauchewagens. Und binnen weniger Minuten umwimmelten den Kadaver Weiber und Männer bei dem blutigsten Geschäft. Eimer oder Wannen in der Linken tragend, mit der Rechten ein weißes Taschen- oder Küchentuch (schwenkend), so kamen sie aus den Häusern gelaufen und rissen sich um die Beute unter den Rohren der Panzerwagen, während mehr und mehr deutsche Soldaten in Gruppen und kleineren, schon geordneten Formationen mit über dem Kopf zusammengelegten Händen straßabwärts den bitteren Weg in die Kriegsgefangenschaft zogen“. In der Stadt setzte das Plündern von Geschäften ein, Amerikaner durchsuchten Häuser nach Waffen, steckten „Andenken“ ein, aßen auf dem Panzerblech sitzend ein Dosengericht, kauten Kaugummi. Anwohner zogen mit Haken die Reste des Pferdekadavers in ein Panzerschützenloch und schütteten Erde darüber. „So endete an dieser Stelle der große Krieg mit der Miniatur einer Schindanger-Szene.“
Ein Absatz hat etwas Bilanzierendes: „Nicht einen Tag lang während dieses ganzen entsetzlichen Kriegs (…) hatte ich nicht geglaubt, dass er zu anderem führend werde als zu einer vernichtenden Niederlage unsres Volkes; aber daß man es so weit mit uns würde treiben können, wie es geschehen, daß man in wenigen Jahren die Substanz von Jahrhunderten opfern und willens sein würde, uns bis zum letzten Tropfen ausbluten zu lassen, ein solcher Grad von Ruchlosigkeit war mir allerdings nicht vorstellbar gewesen.