Ratingen: Der Weg zur Emanzipation war hier besonders lang
Die Historikerin Erika Münster-Schröer hat das Berufsleben der Frauen um 1900 untersucht. Ein Ergebnis: Ratingen hinkte seiner Zeit damals hinterher.
Ratingen. Selbstbewusste Frauen sind es, die da in die Kamera schauen, mit ruhigem Blick, die Arme bei den anderen untergehakt. Gut vorstellbar, dass irgendeine von ihnen schon den derben Witz auf den Lippen hat, mit dem sie gleich die ungewohnte Situation mit dem Fotografen auflockern wird. Dr. Erika Münster-Schröer ist ein bisschen stolz auf die Aufnahme. "Man findet nämlich ganz weniger Bilder von Arbeiterinnen."
Warum das so ist, hat die Historikerin bei ihrer privaten Forschungsarbeit in den Archiven heraus gefunden: Die Emanzipation der Frau brauchte im ländlichen Ratingen etwas länger als andernorts.
"Die Quote der Frauenarbeit war besonders niedrig", hat Münster-Schröer festgestellt. Gerade mal 23 Prozent verdienten 1902 ihr eigenes Geld. Reichsweit waren es schon 31 Prozent. Mehr als die Hälfte der Frauen war als Dienstmädchen angestellt, wiederum nur 23 Prozent der Berufstätigen arbeitete in der Fabrik. Kein Wunder, waren die meisten Fabrikjobs doch harte Knochenarbeit - für Frauen damals undenkbar.
Überhaupt hielt sich das althergebrachte Rollenbild in Ratingen etwas hartnäckiger. An der Anger war man eben besonders katholisch. Da galt zum Beispiel, so Münster-Schröer: "Frauen arbeiten bis zur Heirat, danach kümmern sie sich um die Familie." In Gelddingen hatten die Männer per Gesetz das Sagen.
Erst wenn Ehefrauen zu Witwen wurden, gewannen sie plötzlich an Einfluss, da sie über das hinterlassene Vermögen verfügen durften. Doch sie mischten sich nicht politisch ein. Die erste Frauenbewegung in Deutschland ging an Ratingen schlicht vorbei, keine der aufsässigen "Sufragetten" ließ sich in der Dumeklemmerstadt blicken.
Auch eine der prominentesten Ratinger Frauen jener Zeit, Dorothea Sophie Brügelmann, hielt sich trotz ihres beträchtlichen Vermögens vornehm zurück. Sie sorgte lieber ohne Öffentlichkeit für die Armen der Stadt oder investierte in Schulen. Auch die Aktiven in den katholischen Frauenvereinen - die Vorläufer des SkF - wirkten leise im Hintergrund, hinterließen der Historikerin aber einige schriftliche Zeugnisse über die Verhältnisse in Ratinger Familien. "Sie waren die einzigen, die sich deutlich über Missstände geäußert haben."
Auch die "Schwestern unserer lieben Frau" traten nicht in Erscheinung, stellten aber als Lehrerinnen an der Höheren Töchterschule, der heutigen Liebfrauenschule, ganz praktisch ein Stück Gleichberechtigung her. Bis 1908 war es Frauen nämlich nicht erlaubt, das Abitur zu machen. An der Ratinger Töchterschule bekamen sie dennoch eine hervorragende Ausbildung. "Lieber für alle da sein und nicht so auffallen, das war die Devise", meint Münster-Schröer.
Was die Historikerin besonders interessiert hat, ist die Frage, ob Emanzipation auch etwas mit dem selbst verdienten Geld zu tun hatte. Und tatsächlich: "Da habe ich einen starken Zusammenhang entdeckt", erklärt sie. Die Unabhängigkeit, die das eigene Einkommen manchen Frauen verschaffte, stärkte offenbar auch deren Selbstbewusstsein und den Wunsch nach Mitsprache.
In Ratingen mit seinen wenigen Arbeitnehmerinnen blieb der Trend freilich verhalten. Münster-Schröer erzählt von einer SPD-Frauenversammlung, die 1911 die Frage erörterte: "Wie weit sollten sich Frauen um das öffentliche Leben und die Politik kümmern?" Die Beteiligung lieferte auch schon die Antwort darauf: Etwa 20 Frauen kamen.
Und so entwickelte sich Ratingen weniger von innen heraus, als dass es von außen entwickelt wurde. Münster-Schröer: "Es fügte sich dem Druck der Verhältnisse." 1918 durften erstmals Frauen wählen - und sich auch zur Wahl stellen. Das brachte auch Ratingen die ersten beiden Frauen im Stadtrat ein - immerhin. Johanna Flick wurde für die erzkonservative Zentrumspartei gewählt, Anna Schlinkheider aus Eckamp vertrat die SPD. "Deren Tochter konnte ich noch selbst interviewen", erinnert sich Münster-Schröer begeistert.
Die damalige Sorge, dass Frauen sich nicht an der Wahl beteiligen würden, war übrigens unbegründet. Mehr als 90 Prozent gaben ihre Stimme ab. Die meisten allerdings für die Zentrums-Partei. Und die stand ausdrücklich für das klassische Familienbild, nicht etwa für die unabhängige, berufstätige Frau.