„Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste“ Holocaust-Überlebende erzählt Schülern ihre Geschichte
Grefrath · 1942 kam Eva Weyl mit ihren Eltern in das Durchgangslager Westerbork. Wie sie das Leben im Lager erlebte.
„Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste.“ Mit diesen Worten beginnt Eva Weyl am Dienstagmorgen ihren Vortrag in der Kapelle der Liebfrauenschule Mülhausen. Die Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen erfahren im Rahmen des Geschichtsunterrichts von einer Zeitzeugin, wie Juden verachtet, verfolgt, ermordet wurden.
Seit 2008 ist Eva Weyl immer wieder an Schulen zu Gast, um ihre Geschichte zu erzählen, auch in Mülhausen war sie schon. Weyl, die aus einer jüdischen Familie stammt, wurde am 7. Juni 1935 im niederländischen Arnheim geboren. Die Eltern stammten aus Deutschland, der Vater war aus Kleve, die Mutter aus Freiburg im Breisgau. Ende 1934 verließen die Eltern Deutschland, zogen nach Arnheim und führten einige Jahre ein Textilgeschäft.
1942, Eva Weyl war sechseinhalb Jahre alt, erhielten die Eltern einen Brief: Die Familie müsse zum Bahnhof nach Arnheim. „Meine Eltern bekamen Besuch vom Widerstand“, erinnert sich Eva Weyl, „sie sagten, sie könnten uns ein Versteck besorgen, aber nicht für alle drei zusammen. Mein Vater sagte Nein, so lange wird es nicht dauern, so schlimm wird es nicht sein.“ Sie packten das Nötigste, Wolldecken, Bettzeug, warme Kleidung, Stiefel. Die letzten sechs Kilometer vom Bahnhof zum Lager Westerbork ging es zu Fuß weiter durch die Kälte, „das war der erste Moment, wo ich Angst hatte.“
Erst als 60-Jährige erfuhr sie von ihrer Mutter, dass sie als Kind damals den ganzen Besitz der Familie getragen hatte: Die Mutter hatte Diamanten in die Knöpfe des Wintermantels, den die kleine Eva trug, eingearbeitet. So gut, dass sie nicht gefunden und ihnen abgenommen wurden. Aus den Diamanten ließ die Mutter später einen Ring fertigen, den Eva Weyl dem Erinnerungszentrum Westerbork vermachen wird.
Von Bildern begleitet, Fotos und Zeichnungen, zeigt sie den Schülern, wie es im Lager aussah. „Ihr habt noch nie gewusst, wie es ist, nicht frei zu sein“, sagt sie den Schülern, „ich habe von meinem sechsten bis zu meinem zehnten Lebensjahr nur Stacheldraht gesehen.“ Sie erzählt, wie das Lager aufgebaut war, wie die Menschen dort in den Baracken lebten, in der Kälte, mit dem Ungeziefer. Von Lagerkommandant Gemmeker, der dafür sorgte, dass niemand hungerte, dass die Kranken versorgt wurden, damit es keine Meuterei gab. Es gab Vorträge, Kabarett-Abende, „eine verrückte Scheinwelt“, sagt Weyl, „es gab kein zweites Lager wie dieses.“
Die 88-Jährige erzählt. Wie die Namen von 1000 Menschen aufgerufen wurden, die „in den Osten“ gebracht werden sollten, vorgeblich zum Arbeitseinsatz. Nicht jeder habe das geglaubt, sagt sie auch, „etwa fünf, sechs haben pro Woche Selbstmord begangen.“ Wie sie nach ihrer Schulfreundin Sarah fragte, die sie zwei Wochen nicht gesehen hatte, und es hieß, Sarah sei mit dem Zug weg, „ich habe sie nie wiedergesehen.“ Wie alle Hunde der Juden im Lager erschossen wurden, nachdem zwei Hunde jüdischer Gefangener den Schäferhund des Lagerkommandanten angegriffen hatten. Wie ihre Familie schließlich mit Glück überlebte, weil die Alliierten kamen – eine Woche später wären sie wohl mit dem Zug deportiert worden.
Eindringlich erzählt Weyl ihre Geschichte, humorvoll, sie weiß die Schüler zu packen. Und die sind ganz leise, hören zu, nutzen die Möglichkeit, Fragen zu stellen über damals. Die aktuelle Politik will Weyl nicht ansprechen. Aber sie gibt den Schülern etwas mit auf den Weg: „Die Schoa begann nicht mit Auschwitz, sie begann mit dem Schweigen der Gesellschaft“, sagt sie. Und fordert die Schüler auf: „Werdet meine Zweitzeugen.“ Sie habe die Mission, jungen Leuten zu erzählen, was damals geschah, „und ihr habt die Verantwortung, die Geschichte von den Ermordeten lebendig zu halten.“
Alle hätten das Recht, als würdige Menschen zu leben, betont sie, und zeigt den Schülern abschließend ein Foto von drei Eiern, eins mit weißer, eins mit hellbrauner, eins mit dunkelbrauner Schale. Daneben: ein Foto von drei Spiegeleiern in einer Pfanne. Von der Farbe der Schale ist nichts mehr zu erkennen. „Von außen sind wir verschieden“, sagt Weyl und deutet auf die Eier, „aber von innen klopft das gleiche Herz.“