Lesen die Grundschüler wirklich so schlecht?
Lesekompetenz an der Grefrather Grundschule „Wir sind in Grefrath absolut in der Mitte“
Grefrath · Schüler lesen schlechter. Ein Gespräch mit Schulleiterin Berrit Liebisch über Methoden, Mangel und Motivation.
Ein Viertel der Viertklässler erreicht in Deutschland nicht die Mindestanforderung der Lesekompetenz. Die Schülerinnen und Schüler lesen aktuell schlechter als noch vor fünf Jahren. Das geht aus der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021) hervor – ein Ergebnis, das doch aufrütteln müsste. Berrit Liebisch, Rektorin an der Grefrather Gemeinschaftsgrundschule, beantwortet die für Grefrath wichtigen Fragen.
Berrit Liebisch: In der Tat ist es so, dass die mittlere Lesekompetenz im Vergleich zu 2001 in Deutschland deutlich gesunken ist. Im Vergleich zum Jahr 2016 hingen Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschulzeit ein Drittel eines Schuljahres im Lesen hinter den Anforderungen zurück. Hierzu gibt es die internatioanlen Vergleiche (IGLU) und die Ergebnisse vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). An den Grundschulen werden Vergleichsarbeiten, abgekürzt Vera, im Jahrgang drei durchgeführt. Auch hier zeigt sich, dass die Lesekompetenz bei den Schülerinnen und Schülern insgesamt abnimmt. Die Ergebnisse bei Vera bewegen sich an der GGS Grefrath im Landesdurchschnitt, das entspricht der Schülerschaft. Dabei ist Lesen die Kernkompetenz schlechthin. Meine persönliche Meinung ist, dass sich dies auch durch die Digitalisierung oder durch künstliche Intelligenz nicht ändern wird. Lesen müssen wir ständig und überall.
Spielen da nicht auch die Kindertagesstätten eine wichtige Rolle?
Liebisch: In den Kitas wird schon häufig mit gezielten Fördermaßnahmen und Diagnostik gute Arbeit geleistet. Wir haben ein ganz enges Netzwerk für den Übergang zu den Kitas geknüpft. Dennoch kommen vermehrt Kinder mit geringeren Sprachkompetenzen zu uns.
Wo ist das Problem?
Liebisch: Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel, auf den wir alle zusammen reagieren müssen. Es gibt vermehrt Familien, in denen beide Erziehunsgberechtigten berufstätig sind – auch in Grefrath. Das Berufsleben kostet Kraft und Zeit. Zudem ist unsere Zeit schnelllebiger geworden. Mir ist jedoch wichtig, dass verstanden wird, dass der Aufbau der Sprach-und Lesekompetenz schon frühzeitig zuhause beginnt. Hier hat Sprechen und Sprache ein wichtige Bedeutung, beispielsweise beim Vorlesen von Kinderliteratur oder ausgiebigen Gesprächen in der Familie.
Wie beschreiben Sie die Lese-Situation an der Gemeinschaftsgrundschule in Grefrath?
Liebisch: Ganz wichtig ist mir, dass eine durchgängige Leseförderung garantiert ist – von der Kita über die Grundschulen bis zu den weiterführenden Schulen. Hier arbeiten wir intensiv und gut zusammen. An der GGS nutzen wir im ersten Schuljahr einen Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, gehen bei auffälligen Ergebnissen in die Einzeldiagnose. Im Erstleseunterricht verfolgen wir das Prinzip Buchstabe – Silbe – Wort – Satz – Text. Schließlich fördern wir die Lesegeschwindigkeit, die Lesegenauigkeit, die Automatisierung und das betonte Lesen.
Das lässt sich bis zum vierten Schuljahr durchhalten?
Liebisch: Ja. Mit Projekttagen und -wochen, mit Lesenächten, mit Autorenlesungen und vielen anderen Strategien wollen wir die Schülerinnen und Schüler dauerhaft zum Lesen motivieren und auch zu guten Ergebnissen bringen. Da erfolgreiches Lernen aber auch etwas mit Bewegung, musischen Fächern und Emotionen zu tun hat, gibt es an der GGS im vierten Schuljahr zusätzlich Wahlpflicht-Unterricht: Informatik, Skaten, Niederländisch, Kunst, Ballsport – ohne Noten.
Das hört sich doch gut an.
Liebisch: Wir brauchen aber mehr fachlich ausgebildete Grundschullehrerkräfte und Sonderpädagogen. In Grefrath fehlen im kommenden Schuljahr knapp eineinhalb Stellen. Wir sollten sicher dem Leseunterricht – noch – mehr Zeit einräumen, aber auch mehr Geld in die Bildung insgesamt investieren.
NRW gab 2021 7000 Euro für jeden Grundschüler aus, Hamburg dagegen 12 200 Euro.
Liebisch: Stimmt. Nordrhein-Westfalen ist damit Schlusslicht in ganz
Deutschland.
Gibt es konkrete Ansätze, damit Schülerinnen und Schüler wieder besser lesen lernen?
Liebisch: Es schadet nicht, die Erfahrungen in anderen Bundesländern zu nutzen und bewährte Konzepte zu adaptieren. Dazu gehört beispielsweise die konsequente Umsetzung des Konzeptes BiSS, Bildung durch Sprache und Schrift. Mit BiSS-Transfer wird eine Initiative für durchgängige Sprachbildung in Kita und Schule erprobt. Das alles gibt es schon, wurde aber in NRW bislang nicht konsequent genug in die Schulen weitergetragen. Kürzlich hat das NRW-Schulministerium den Schulleitungen die Leseplattform „Leon“, Leseraum Online, vorgestellt, entwickelt von der TU Chemnitz. Insgesamt sollen drei Forschungsprojekte mit einem Volumen von rund 3,9 Millionen Euro gefördert werden. Im Rahmen der Videokonferenz bekamen die Schulleitungen nur einen ersten Eindruck von Leon, da Leon den Schulen noch nicht zur Verfügung steht.