Nummer gegen Kummer in Kempen „Die Kinder üben mit uns das Reden“

Kempen · Am Kinder- und Jugendtelefon des Deutschen Kinderschutzbundes, Ortsverband Kempen, hören Ehrenamtler zu.

Anita ist bei der „Nummer gegen Kummer“ Ansprechpartnerin für die Sorgen und Nöte von Kindern und Jugendlichen.

Foto: Birgitta Ronge

Kürzlich rief eine junge Frau bei der „Nummer gegen Kummer“ an. Sie habe verschiedene Medikamente genommen, habe sich das Leben nehmen wollen. Jetzt stehe sie vor der Tür der Notfallambulanz, doch sie traue sich nicht hineinzugehen. „Ich habe ihr gesagt, du schaffst das, ich bin bei dir, ich begleite dich“, erinnert sich Anita. Sie blieb so lange in der Leitung, bis die junge Frau hineinging und von einer Ärztin in Empfang genommen wurde.

Anita heißt nicht wirklich Anita. Wir haben ihren Namen geändert. Denn die Kempenerin muss anonym bleiben, so wie ihre Mitstreiter auch, die ehrenamtlich als Ansprechpartner am Kinder- und Jugendtelefon des Deutschen Kinderschutzbundes, Ortsverband Kempen, zur Verfügung stehen. Zwölf Aktive hat der Ortsverband Kempen derzeit, weitere sollen hinzukommen, weshalb der Verband im kommenden Jahr wieder eine Ausbildung für weitere Ehrenamtler anbieten will.

Die Nachfrage am Kinder- und Jugendtelefon ist hoch: 90 957 Beratungen registrierte das Kinder- und Jugendtelefon in ganz Deutschland im vergangenen Jahr. Das Angebot des Ortsverbands Kempen ist der bundesweiten „Nummer gegen Kummer“ angeschlossen – wer unter der bundesweit einheitlichen Rufnummer 116 111 anruft – anonym, kostenfrei und vertraulich –, hat irgendeinen Ansprechpartner irgendwo in Deutschland am Hörer.

Es werden keineswegs nur Kempener Anrufe durchgestellt

„Unser Telefon ist besonders“, sagt Margret Terhoeven, Vorsitzende des Ortsverbands Kempen, „wir sehen nicht, von wo die Anrufe kommen.“ Entsprechend werden keineswegs nur Kempener Anrufe zum Telefon des Kinderschutzbundes durchgestellt, die Anrufe kommen von überall her.

Von montags bis samstags, 14 bis 20 Uhr, steht die „Nummer gegen Kummer“ zur Verfügung, und bei 2444 Beraterinnen und Beratern bei 77 örtlichen Trägern, die deutschlandweit im vergangenen Jahr unter dieser Nummer zur Verfügung standen, ist es eher unwahrscheinlich, zweimal dieselbe Person in der Leitung zu haben.

Die meisten anrufenden Kinder und Jugendlichen waren zwischen zwölf und 18 Jahre alt. In vielen Fällen geht es um psychische Probleme, nach der Statistik der „Nummer gegen Kummer“ machten diese 12,9 Prozent der in den Anrufen besprochenen Themen aus. Auch die Beziehung zu den Eltern ist ein von den Kindern und Jugendlichen häufig angesprochenes Thema (10,4 Prozent), gefolgt von Krankheit, Einsamkeit, Langeweile oder Spott, Ausgrenzung und Mobbing.

Für die Ehrenamtler am Telefon sind die Sorgen und Nöte, die die Kinder und Jugendlichen schildern, oft ein Rückblick in die eigene Kindheit. Zwar gebe es heute andere Möglichkeiten, seien Kinder und Jugendliche heute durch die sozialen Medien anderen Herausforderungen ausgesetzt als die Kinder früherer Generationen, „aber wenn man es herunterbricht, hat sich nichts verändert“, sagt Anita.

Für die Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren sei Sexualität das beherrschende Thema, viele hätten Fragen, wie sie zu sein hätten, berichtet Wolfgang (Name ebenfalls geändert). „Und die Mädchen sind genauso wie wir früher“, fügt Anita an, „sie wollen die romantische Liebe.“ Im Unterschied zu früher hätten die Jugendlichen heute allerdings häufiger Internetbekanntschaften, „und wenn mir dann ein Mädchen am Telefon sagt, ich bin so aufgeregt, ich treffe ihn nächste Woche das erste Mal, dann rate ich ihr, eine Freundin mitzunehmen, jemanden zu informieren, wo sie ist.“

Auch die Kleineren rufen schon bei der „Nummer gegen Kummer“ an. Da ist etwa der Drittklässler, der von seinen ehemaligen Freunden erzählt, die ihn jetzt ärgern. Oder die Achtjährige, die so gern ein braves Mädchen sein will und es der Mutter nicht recht machen kann.

Die Palette der Anrufe sei ungeheuer vielfältig, berichten die Ehrenamtler aus Kempen. Ihr Ziel: dem Kind oder Jugendlichen zu helfen, selbst einen Weg zu finden, sich Ansprechpartner zu suchen. „Dafür gibt es kein Schema F“, sagt Wolfgang. „Aber in einer Mobbing-Situation kann ich zum Beispiel fragen: ,Wen hast du an deiner Seite? Was sagen deine Eltern dazu?“ Das Gespräch mit dem anonymen Begleiter am Telefon kann dazu beitragen, in der Realität einen Ansprechpartner zu suchen, „die Kinder üben bei uns das Reden“, sagt Anita.

Manchmal sind auch lustige
und dankbare Anrufe dabei

Es gibt auch lustige Anrufe bei der „Nummer gegen Kummer“. So berichten die Ehrenamtler von etlichen Testanrufen. „Wir hören da oft sehr fantasievolle Geschichten“, sagt Silvia (Name geändert). Die durchschaue man oft sehr schnell, „das harmloseste ist noch, dass die Kinder bei uns eine Pizza bestellen“, fügt Wolfgang schmunzelnd an. Humor sei insofern eine gute Eigenschaft, um Ehrenamtler beim Kinder- und Jugendtelefon zu werden.

Und manches Mal sind auch schöne Erlebnisse dabei. So rief in der Corona-Zeit ein Junge etliche Male an, der sich große Sorgen um seine Mutter machte, die Intensivschwester war. Als die Pandemie ein Ende fand, rief er an, um sich zu bedanken, dass die anonymen Ehrenamtler der „Nummer gegen Kummer“ für ihn da waren.