Politikunterricht: Zeuge der Kölner NSU-Anschläge erzählt
Kutlu Yurtseven hat Rassismus erlebt. Davon berichtet er in den neunten Klassen.
Kempen. Zehn Jahre sind seit dem Bombenanschlag auf der Kölner Keupstraße vergangen. Er wird dem Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) zugeordnet. Der Prozess gegen Beate Zschäpe ist noch nicht abgeschlossen. Das Motiv für die Morde an neun Kleingewerbebetreibenden und für die zwei Bombenattentate ist eindeutig: Rassismus. Grund genug, das Thema im Politikunterricht aufzugreifen, finden die Schüler der neunten Klassen des Thomaeums.
Neben Feindbildern und Vorurteilen haben sie sich mit der Geschichte des Rassismus und des NSU befasst. Höhepunkt war jetzt das Interview mit Kutlu Yurtseven, Hip-Hop-Musiker und Anwohner der Keupstraße.
Aus erster Hand berichtet Kutlu Yurtseven im Thomaeum, wie er die beiden Bombenattentate in Köln (2000 und 2004) erlebt hat. „Haben Sie hier einen Perser gesehen?“, habe ihn ein Polizist gefragt. Yurtseven habe nur geantwortet: „Meinen Sie einen Teppich, oder einen Menschen?“ Weiter verhört worden sei er nicht, obwohl sein Studio direkt über dem, durch den ersten Anschlag zerstörten Kiosk, liegt.
Und Yurtseven zeigt sich empört über die einseitigen Ermittlungen und die Täter-Opfer-Umkehrung. Denn: Lange hätten Familienmitglieder als Täter gegolten. Der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) habe sogar einen rechtsradikalen Hintergrund ausgeschlossen.
Als der zweite Sprengsatz auf der Keupstraße explodiert ist, sei Yurtseven nicht zuhause gewesen. „Es ist ganz anders, wenn du über Filme und Fotos davon erfährst“, sagt er vor den Schülern, „Das macht das Ganze so unwirklich, irgendwie weniger real“. Als erstes habe ihn ein Bild eines Freundes erreicht, dem ein Nagel aus der Schulter ragte.
Die Folgen des Anschlages seien immer noch gegenwärtig. Viele Läden hätten inzwischen geschlossen, die Menschen würden sich vor der Polizei fürchten und seien misstrauisch geworden. „Die Beamten sind rabiat gegen die Anwohner und Familien vorgegangen. Schon ein paar Stunden nach dem Attentat haben sie Wohnungen gestürmt“, sagt Yurtseven.
Am Ende seines Vortrages konnten die Jugendlichen Fragen stellen. Ob er sich selbst schon einmal im Alltag mit Rassismus konfrontiert gesehen habe, möchte eine Schülerin wissen. Ja, antwortet er. Es seien vor allem Kleinigkeiten: „Zum Beispiel die Kassiererin, die das Rückgeld demonstrativ in die Schale und nicht in meine ausgestreckte Hand legt.“
Auch er ertappe sich gelegentlich bei Vorurteilen: „Ich bin definitiv kein Heiliger.“ So sei nach einem Konzert bei Beats gegen Rechts ein homosexueller Freund zu ihm gekommen und habe einige Textzeilen kritisiert. „Man benutzt die Wörter schwul oder Schwuchtel schnell mal als Schimpfwort“, sagt der Kölner. Seitdem habe seine Band ihre Texte geändert: „Wir achten mehr darauf, was wir sagen.“
„Seid ihr stolz, Deutsche zu sein?“, fragt Yurtseven noch. Die Schüler bejahen. Aber wie könne man auf etwas stolz sein, für das man gar nichts getan habe, fragt Yurtseven. Die Nationalität beeinflusse den Menschen nicht. Er entlässt die Schüler mit dem Rat: „Lasst die Nationalität weg und lernt die Menschen kennen.“ Das nächste Mal, so verspricht er noch, komme er mit seiner Band und gebe am Thomaeum ein Konzert.