Willich Geschichtskurs auf den Spuren der Stolpersteine
Schüler des Anrather Gymnasiums hatten ungewöhnliche Schulstunde mit der Gemeindereferentin.
Anrath. 16 junge Erwachsene, größtenteils 17 und 18 Jahre alt, sitzen in der katholischen Pfarrkirche St. Johannes in der Runde. Es sind Schüler des Zusatzkurses Geschichte, die Referendarin Janine Kalkbrenner vom Lise-Meitner-Gymnasium mitgebracht hatte.
Gemeindereferentin Stephanie Graßhoff verteilt Gebetstexte sowie einen dünnen Brotfladen, Matze genannt, der als Erinnerung an den biblisch überlieferten Auszug der Israeliten aus Ägypten gegessen wird. Anschließend geht es nach draußen, schaut sich die Gruppe einige der in Anrath verlegten 27 Stolpersteine an.
„Wir beschäftigen uns gerade mit dem Dritten Reich, also auch mit der systematischen Ermordung der Juden in den Gaskammern“, erläutert Janine Kalkbrenner die praktische Geschichtsstunde. Mit Chris Müller (17) und Nils Hübner (18) wollten auch zwei Schüler unbedingt mit dabei sein, die den Leistungskurs Geschichte belegen. Nils war schon in Ausschwitz, hatte ferner am Holocaust-Gedenktag im vergangenen Jahr mit eine Ausstellung im Anrather Gymnasium organisiert.
An einigen Stolperstein-Stationen zeigen die Schüler der 12. Jahrgangsstufe, wie Henry, Sonja, Finn und Jannik, die Fotos von Juden, die dort einst gewohnt hatten, stellen diese den Mitschülern in kurzen Lebensläufen vor. Ab und zu kommen andere Spaziergänger vorbei, halten inne, hören zu.
Viele Stolpersteine erinnern an die in Anrath lebende Großfamilie Servos — zum Beispiel an Ella und Meta Servos, die am Kirchplatz bei ihren Eltern gewohnt hatten und denen im Jahr 1939 die Flucht nach England gelungen war. Ella und Meta wurden beschuldigt, sexuelle Beziehungen zu „arischen Männern“ gehabt zu haben. Ella konnte bereits im Mai 1939, kurz bevor sie mit einem Verfahren rechnen musste, flüchten. Bei Meta war dies etwas anders: Erst kurz vor der drohenden Verhaftung am 12. August 1939 gelang ihr die Flucht über die Niederlande zu ihrer Schwester nach England.
Zeit des Erinnerns an die Greueltaten blieb auch an der Stelle, wo einst die jüdische Synagoge stand, an der Viersener Straße, in Höhe der Heribertstraße. Isabel (17) weiß auch, dass es in der Donk noch einen jüdischen Friedhof gibt. „Der sieht total verrottet aus, wie eine Ruine“, sagt sie. Die Gemeindereferentin erklärt, dass es zum jüdischen Glauben gehöre, die Grabstätten so zu belassen, wie sie ursprünglich einmal gewesen seien.
Stephanie Graßhoff hat einige kleine Steine mit dem eingeritzten Davidsstern mitgebracht. Auch dafür hat sie eine Erklärung: „Früher, als die Israelis ihre Toten in der Wüste bestatteten, haben sie auf die Grabstätten als Schutz vor den Tieren große Steine gesetzt. Daran wird durch die kleinen Steine erinnert.“
Die 16 Schüler werden die Greueltaten der Nazis sicher nicht mehr so schnell vergessen. Ganz in Gedanken geht die Gruppe nach dieser ungewöhnlichen Geschichtsstunde auseinander.