Lese-Tipp der Stadtbibliothek Tönisvorst Ein Roman zwischen Drama und Komödie spielt in Odessa

Tönisvorst · Carmen Alonso, Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei, gibt unseren Lesern Literaturtipps. Diesmal: „Sommer in Odessa“ von Irina Kilimnik.

Carmen Alonso ist die Leiterin der Stadtbibliothek Tönisvorst.

Foto: Marc Schütz

Was für eine Familie: Medizinstudentin Olga wohnt mit ihrer Mutter, zwei Tanten und drei Cousinen in einem Haus im Odessa des Jahres 2014. Das einzige männliche Wesen in diesem Haushalt ist der Großvater, und der prägt das Leben der Familienmitglieder ganz nach seinem Geschmack: Die Schwiegersöhne – allesamt Nichtsnutze und Versager! – hat er im Laufe der Jahre erfolgreich vertrieben, und auch sonst läuft alles nur nach seinem Willen. Zwar beteuert er, dass er sich für jede einzelne von ihnen aus dem achten Stock stürzen würde, in Wirklichkeit verfolgt er aber nur seine Interessen und manipuliert alle bis weit über die Schmerzgrenze hinweg. Töchter und Enkelinnen kreisen nur um diesen Opa, der die Geburten seiner Töchter jeweils mit „Schon wieder ein Scheißmädchen“ kommentierte.

Eines Tages soll, entgegen allen bisherigen Gewohnheiten, der Geburtstag des Großvaters groß gefeiert werden, und die Töchter kochen, backen und putzen tagelang. Unerwartet steht ein Ehrengast vor der Tür: der älteste Freund des Großvaters, vor Jahren bereits nach New York ausgewandert und jetzt für einige Zeit zu Besuch in der Stadt. David verbreitet Witz, Wärme und Herzlichkeit im Haus, doch die beiden Männer scheint ein Erlebnis aus dunkler Vergangenheit zu verbinden. Spannung liegt in der Luft, und der Hausherr durchlebt verschiedenste Gemütszustände, von freudig bis furios: „Dieser Schwachkopf mit seinem amerikanischen Grinsen!“ Olga, die Medizinstudentin kurz vor der Zwischenprüfung, die diese ungeliebte Berufswahl natürlich nur auf Weisung des Opas gewählt hat, glaubt, die Hintergründe zu erkennen, und versucht, ihr Leben endlich in die eigenen Hände zu nehmen.

Dieses Buch bietet – zwischen Drama und Komödie – eine beeindruckende Mischung aus quirligem Familienroman mit all den Zänkereien zwischen den einzelnen Temperamenten und der Beschreibung der (damals noch lebenswerten und unbeschwerten) Hafenstadt Odessa: Es riecht überall nach Meer und nach Akazien, es duftet nach gebratener Paprika und gargekochten Maiskolben; es zeichnet sich aber auch schon eine unheilvolle politische Entwicklung ab und eine sich aufheizende Atmosphäre, die Familien spalten wird. So wie bei Olgas bester Freundin Mascha: Die Mutter hört seit Neuestem ihre CDs mit ukrainischen Liedern in voller Lautstärke; der Vater, der im Russischen die wahre Stäke sieht, dreht die Fernseh-Nachrichten auf und applaudiert, sobald Putin auftritt.

Autorin Irina Kilimnik, 1978 in Odessa geboren, kam mit 15 Jahren nach Deutschland und lebt heute in Berlin. Sie studierte Humanmedizin und Mediapublishing und hat bisher zahlreiche Essays und preisgekrönte Kurzgeschichten verfasst. „Sommer in Odessa“ ist ihr Debütroman.