Wie der Heilige Napoleon Neersen gerettet hat
Um ein Haar wäre die Pfarre im 19. Jahrhundert aus Finanznot aufgelöst worden.
Willich. Es ist Samstag, der 5. Oktober1794, 15 Uhr: In Alt-Willich treffen die ersten Soldaten der französischen Revolutionsarmee ein; sie sind zerlumpt, aber gut bewaffnet und voller Elan für die Losung, die bald halb Europa verändern wird: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit."
Die Invasoren sind die Vorboten der neuen Zeit: Die mittelalterlich geprägte Herrschaft des Kölner Kurfürsten ist vorbei.
Entgegen den Glücksverheißungen der "Befreier" stöhnt die Willicher Bevölkerung unter Beschlagnahmungen und Lieferungen für die Besatzung. Als etwa der Jungbauer vom Schüpperhof bei Anrath den Nachbarn gegen gewalttätige Franzosen zu Hilfe kommen will, spaltet ihm ein Säbelhieb den Arm.
Das Papiergeld, mit dem die "Frantzen" bezahlen, nennt sich "Assignaten" und ist völlig wertlos - muss aber in Zahlung genommen werden. Indes sind die vereinzelten Ausschreitungen nicht zu vergleichen mit den massenhaften Massakern und Gräueln vergangener Kriege.
Es vollziehen sich radikale Neuerungen: An die Stelle der kurkölnischen Ämter Linn, Liedberg und Kempen und der Herrschaft Anrath-Neersen tritt als übergeordnete Behörde das Arrondissement Krefeld. Der Flickenteppich der mittelalterlichen Verwaltungsbezirke wird durch zweckmäßige Gemeindegrenzen ersetzt.
Ab dem 23. September 1802 gehört der linke Niederrhein auch völkerrechtlich zu Frankreich. Moderne Steuern ersetzen die alten Feudallasten. Ab jetzt gilt statt Ellen und Fuß das Dezimalsystem mit Metern und Kilometern, statt der alten Stände-Einteilung in Adel, Geistlichkeit und Untertanen die Gleichheit vor dem Gesetz, aber auch die Wehrpflicht.
Segensreich: die Pockenimpfung (ab 1812). Zukunftsweisend: In den einzelnen Bürgermeistereien (französisch: Mairien) sorgen Haushaltspläne für solide Finanzplanung. Doch die neuen Gemeinderäte sind nicht mehr als staatliche Ausführungsorgane.
Wie immer bei Machtwechseln gab es Nutznießer. Der bedeutendste, weil geschickteste, war der Notar Karl-Josef Lenders, der schon unter dem Kurfürsten als Amtmann Anrath-Neersen verwaltet hatte. Er kaufte nun Schloss Neersen und sorgte dafür, dass der Ort sich als Pfarrbezirk von Anrath emanzipierte.
Als der neuen Pfarre wegen mangelnder Einnahmen die Auflösung drohte, gelang Lenders die Rettung durch die Annahme des "Heiligen Napoleon" zum Pfarrpatron. Das könnte den Franzosen so gut gefallen haben, dass Neersen als Hilfspfarre erhalten blieb.
Möglich ist in dem Zusammenhang, dass sogar eine Skulptur des Heiligen Sebastian zum Heiligen Napoleon umfunktioniert worden war - die Pfeile in der Hand der Napoleon-Skulptur weisen darauf hin. Erst 1856 wurde das Patrozinium aufgehoben.
Die Geistlichen waren nun Staatsbeamte, die Zivilehe und das Standesamt wurden eingeführt. Aller erzbischöfliche und kirchliche Besitz (wie das Neersener Minoritenkloster) wurden verstaatlicht und zum Verkauf freigegeben - zu angemessenen Preisen.
Als Militärmacht war den Franzosen an guten Verkehrswegen vor allem für Truppenbewegungen und Nachschub gelegen. Schnurgerade Chausseen, etwa von Krefeld nach Gladbach durchs Niersbruch (1795), wurden gebaut, aber auch - in Teilstücken - der Nordkanal (1806 bis 1810), heute noch bei Schiefbahn sichtbar.
Als Planungsgrundlage begann 1803 Oberst Tranchot mit der ersten systematischen Kartierung, heute eine Fundgrube für Lokalhistoriker. Und über halb Europa verstreut ruhen die sterblichen Überreste Willicher Soldaten, die ihre Knochen für Napoleons Expansionspolitik hinhielten.