Nordrhein-Westfalen Polizeigewalt wird kaum geahndet

Düsseldorf · Hunderte Anzeigen gab es 2017 in NRW, aber kaum Anklagen. Eine Bochumer Studie beleuchtet das Dunkelfeld durch eine anonyme Befragung der Opfer.

Wie viel Zwang dürften Polizisten anwenden – und wie viel ist zu viel? Diese Frage beschäftigt Menschen immer wieder anhand von Einzelfällen. Ein Bochumer Kriminologe sieht es kritisch, dass Tätigkeiten gegen Beamte immer drastischer geahndet werden, während deren Befugnisse ausgeweitet werden.

Foto: picture alliance / dpa/Andreas Arnold

Die Ingewahrsamnahme des Wuppertaler Jobcenter-Chefs Thomas Lenz beim Protest gegen eine Neonazi-Demo im Juni schlägt in der Region seither hohe Wellen. Jetzt auch bundesweit: In der vergangenen Woche war der Fall Aufhänger eines Berichts zu Polizeigewalt im ARD-Magazin „Monitor“. Lenz zeigte sich vor der Kamera noch immer tief beeindruckt von den Erlebnissen. „Ich hätte niemals damit gerechnet, dass die Polizei in Deutschland gegenüber einem, der 60 Jahre alt ist, in dieser Brutalität vorgeht.“

Ein Nierentrauma und multiple Prellungen attestierten Ärzte Lenz, nachdem mehrere Polizisten ihn zu Boden gebracht hatten, so die ARD-Reporter. Zu sehen ist auch das Video, das Lenz dieser Zeitung bereits kurz nach dem Vorfall vorgelegt hatte. Es zeigt, wie der Wuppertaler heftig mit einem Polizisten diskutiert, von ihm schließlich im Würgegriff gepackt und niedergerungen wird. Eine Nahaufnahme fokussiert dann die Hand eines Polizisten, der Lenz’ Nierengegend malträtiert.

Die Ermittlungen gegen Lenz wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie gegen den Polizisten wegen Körperverletzung im Amt und Freiheitsberaubung beim Polizeipräsidium Hagen laufen derzeit noch, bestätigte die Wuppertaler Staatsanwaltschaft jetzt. Die politische Aufarbeitung des Vorfalls im NRW-Landtag geht ebenfalls weiter: Berichte der Landesregierung sind an diesem Donnerstag erneut Thema im Innenausschuss.

715 Anzeigen gegen Polizisten gab es 2017 – aber nur fünf Anklagen

Der „Monitor“-Bericht legt nahe, dass der Wuppertaler Fall ein Schlaglicht auf ein Problem mit Polizeigewalt wirft, dem bislang juristisch nicht beizukommen ist. 2177 Ermittlungsverfahren gegen Beamte gab es demnach deutschlandweit 2017 – 91 Prozent wurden eingestellt, nur zwei Prozent endeten mit Anklagen oder Strafbefehlen.

Ähnlich sieht die Lage laut Kriminologie-Professor Tobias Singelnstein von der Universität Bochum in Nordrhein-Westfalen aus: Hier gab es im vergangenen Jahr 715 Verfahren wegen rechtswidriger Gewaltausübung gegen Polizisten. Nur fünf davon führten zu Anklagen oder Strafbefehlen. Laut dem Experten hat das mehrere Gründe: Wenn es keine Videos von den angeblichen Übergriffen gebe, stehe Aussage gegen Aussage – und Polizisten seien für Richter, die oft mit ihnen zusammenarbeiteten, generell glaubwürdige Zeugen. Und: „Es kommt in der Praxis sehr selten vor, dass Polizeibeamte gegen Kollegen aussagen“, erklärt Singelnstein. Das sei psychologisch erklärbar, weil die Polizisten als „Gefahrengemeinschaft“ sich in besonderer Weise auf einander verlassen müssen, aber natürlich sei es „rechtswidrig und sogar strafbar“, wenn Aussagen abgeglichen würden.

Resonanz auf die Bochumer Befragung ist „sehr, sehr gut“

Dass es eine Zunahme der Gewalt durch Polizisten gibt, glaubt Singelnstein nicht. Allerdings geht er von einem großen Dunkelfeld aus. Denn für das Anzeigeverhalten von Opfern gebe es generell zwei entscheidende Kriterien: die Erfolgsaussicht und das Vertrauen in die Polizei – beides in diesem Fall offenkundig kaum vorhanden. Wie viele Übergriffe von Polizeibeamten tatsächlich bekannt werden, sei daher nicht abzuschätzen, so der Professor: „Das ist in Deutschland bisher nicht systematisch untersucht.“ Er und sein Team wollen das ändern und haben eine Online-Befragung von Polizeigewalt-Opfern gestartet. „Die Resonanz ist sehr, sehr gut“, sagt Singelnstein. Bis Mitte Dezember wollte man eine vierstellige Anzahl von Befragten erreichen – die habe man schon jetzt. Neben dem Anzeigeverhalten soll in der Studie erhoben werden, in welchen Situationen und wie Übergriffe passieren. „Die Bandbreite ist riesengroß“, sagt Singelnstein. Es gebe durchaus Beamte, die immer wieder durch zu hartes Durchgreifen auffielen.

Aber auch die Arbeitsbelastung spiele eine Rolle: „Einem übermüdeten, überlasteten Beamten passiert das eher.“ Vor der Debatte der vergangenen Monate über die Mehrarbeit der Bereitschaftspolizei durch Hambacher Forst und Ähnliches kein unwichtiger Hinweis. Trotz der Härten und Gefahren des Jobs sieht der Kriminologe es kritisch, dass Polizisten durch neue Gesetze immer mehr Befugnisse eingeräumt werden, während parallel die Widerstandshandlungen schneller und härter geahndet werden. „Es verschiebt die Deutungshoheit noch einmal drastisch in Richtung Polizei“, glaubt Singelnstein. Er hält das für „unverhältnismäßig“ und für ein negatives Signal in die Gesellschaft, der man suggeriere, Polizisten seien schützenswerter als andere Menschen.