Flüchtlinge beeinflussen Demografie
Die Ergebnisse im „Handlungskonzept Demografie“ aus dem Sommer 2013 sind durch den Zustrom von Asylbewerbern mittlerweile hinfällig geworden.
Neuss. Mehr als 2500 Flüchtlinge leben bereits in der Stadt Neuss — und es werden mehr. Sieben von zehn Asylbewerbern sind männlich, jeder zweite ist unter 25 Jahre alt. Diese Zahlen und Entwicklungen rufen Wilfried Kruse (63) auf den Plan. „Wir sollten im Sommer Bilanz ziehen, wo wir mit dem demografischen Wandel und den daraus resultierenden Handlungsempfehlungen stehen“, rät der Mann, der 2013 als Vorsitzender der städtischen Enquete-Kommission zur Demografie die Ergebnisse vorstellte. Eine Zwischenbetrachtung dränge sich nach fast drei Jahren sowieso auf, aber angesichts des Zustroms flüchtender Menschen sei sie eigentlich unverzichtbar. Es sei angesagt, sich bewusst zu machen, welchen Einfluss die Flüchtlinge auf die Schülerzahl oder auch den Wohnungsmarkt haben werden.
Ob es dazu kommt, bleibt offen. „Wir schreiben die Zahlen für die statistischen Stadtbezirke laufend weiter“, sagt Ingrid Schäfer, „ich sehe derzeit keine Priorität, weiterhin den Schwerpunkt auf Grundlagenarbeit zu legen. Wir müssen unsere Erkenntnisse in konkretes Handeln umsetzen. Zum Beispiel im Wohnungsbau.“ Unbestritten sei, dass der Flüchtlingszustrom großen Einfluss auf die Neusser Demografie-Prognose habe: „Ein Drittel der Flüchtlinge wird bleiben“, sagt Schäfer. Die langjährige CDU-Ratsfrau, die den städtischen Beirat Demografie leitet, kündigt ein Gespräch mit Wilfried Kruse an.
Dass die Stadt Neuss mit einer interfraktionellen Enquete-Kommission nach Antworten auf den demografischen Wandel suchte, löste vor mehr als drei Jahren bundesweite Aufmerksamkeit aus. Wilfried Kruse reiste als Kommissionsvorsitzender zu Vortragsveranstaltungen durch die Bundesrepublik. Das Bundesfamilienministerium lobte, Neuss habe „Vorbildliches“ geleistet.
Die Idee zur Kommission hatte der damalige Bürgermeister Herbert Napp, der in Wilfried Kruse, der viele Jahre zuvor einmal Beigeordneter (1992 bis 2004) in Neuss gewesen war, den Motor fand. Die Kernthese der Kommission: Die Zahl von 150 000 Einwohnern könne nur gehalten werden, wenn die Stadt Neuss Zuwanderer gewinnt. Die Situation tritt nun ein, obwohl niemand mit einem derartigen Zustrom gerechnet hat.
Das Ziel einer stabilen Einwohnerzahl verfolgt einen einfachen Grund: Wenn die Infrastruktur — wie es der Fall ist — auf 150 000 Menschen ausgelegt ist, wird es für den Einzelnen teurer, wenn weniger Neusser die vorhandenen öffentlichen Leistungen von der Kanalisation bis zum Sportplatz bezahlen müssen. Veränderung erfordere Anpassung von Entwicklungen in den Bereichen Infrastruktur, Lebens- und Wohnformen, Ausweisung von Flächenpotenzialen.
Da 2000 der Neusser Flüchtlinge in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes wohnen und nach wenigen Wochen die Stadt wieder verlassen, werden sie keinen Einfluss auf die Demografie nehmen. Dauerhaft leben derzeit in Neuss 600 Flüchtlinge; Tendenz steigend. Noch ist ihre Zahl so gering, dass sie die Ergebnisse der Enquete-Kommission nicht zur Makulatur machen. „Eine neue Prognostizierung ist nicht erforderlich“, sagt Kruse, „wir sollten uns aber bewusst machen, wo wir stehen.“ Der Experte empfiehlt ein Forum zur Infrastruktur, einen Masterplan für die Wirtschaftsförderung und eine Offensive im Bereich eGovernment, auch für die Wirtschaft: „Jeder Bürger geht statistisch nur 1,4 Mal jährlich ins Rathaus. Die Unternehmen haben einen zigfachen Bedarf.“