Neuss. In einem kleinen Tabakladen hat sich eine Gruppe von Menschen versammelt, gekleidet in der Uniform der "Unterschicht": Man trägt Trainingsanzüge aus Fallschirmseide, weiße Tennissocken stecken in blauen Badelatschen und T-Shirts mit Totenkopfmuster sind angesagt. Die Gruppe macht Lärm und benimmt sich daneben. Was aussieht wie eine Folge der Ruhrpott-Comedy "Alles Atze" spielt auf der Bühne des Rheinischen Landestheaters: Zur Eröffnung der neuen Spielzeit feierte am Freitagabend Brechts Parabel "Der gute Mensch von Sezuan" in Neuss Premiere.
Der Tabakladen gehört der Ex-Prostitutierten Shen Te, der Protagonistin des Stücks, an der Brecht zeigt, wie schwer es ist, ein guter Mensch zu sein. Denn ihr selbstloses Engagement für andere führt letztlich zu ihrem eigenen Ruin. Gleichzeitig wirft Brecht in seiner Parabel die Frage auf, was das überhaupt sein soll: Ein guter Mensch? Diese Frage ist weiter aktuell, auch wenn Brechts Anspruch, das Theater als Lehranstalt für moralische Fragen zu nutzen und das Geschehen auf der Bühne als Demonstration gesellschaftlicher und ethischer Probleme zu interpretieren, im ersten Moment nicht mehr zeitgemäß wirkt.
Brechts scheinbar so klare klassenkämpferische Botschaften hat Regisseur Andre Sebastian zeitgenössisch ambivalent in der Schwebe gehalten und so das Moderne der Brechtschen Dramatik herausgestellt. Manche Bezüge zum Hier und Heute stellen sich sowieso ganz von selbst ein: Die Virtuosität der Sprache, die Tiefe und Vielschichtigkeit mit der Brecht das Problem der Moral behandelt und der hohe, aber gerechtfertigte Anspruch ans Publikum sich selbst, Gedanken zum Thema zu machen, haben keinen Klamauk nötig und bieten eine wohltuende Abwechslung vom platten Unterhaltungseinerlei im Fernsehen.
Hauptdarstellerin und RLT-Neuzugang Tini Prüfert spielt die Rolle der Prostituierten Shen Te mit viel Ausstrahlung, Natürlichkeit und Hingabe, dass man als Zuschauer unweigerlich in die Geschichte hineingezogen wird. So ist es vor allem ihrem leidenschaftlichen Spiel zu verdanken, dass die Schwächen der dreistündigen Aufführung, wie beispielsweise Gesangs- und Comedyeinlagen, nicht so schwer ins Gewicht fallen und es ein gelungener Premierenabend wurde. Das Stück endet mit einem der berühmtesten Brecht-Zitate, das die meisten wahrscheinlich aus einem ganz anderem Kontext, nämlich dem Fernsehen kennen: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Weitere Aufführungen: Montag und Dienstag Abend, 20 Uhr