Stadtrundgang: Literarische Reise ins Mittelalter
1474/75 blickte Europa auf Neuss. Die Geschehnisse von einst hielt Stadtschreiber Christian Wierstraet fest. Am Samstag ging es auf Spurensuche.
Neuss. Christian Wierstraet, Neusser Stadtschreiber, ist es zu verdanken, dass die Belagerung von 1474/75 genau dokumentiert ist. In seiner Chronik, im Original in der alten Sprache Ripuarisch, berichtet er über den Kampf und die Schauplätze, die heute noch zu besichtigen sind.
Am Samstag begaben sich die Teilnehmer der Führung "Wierstraet - ein literarischer Stadtrundgang mit Lesung" mit der Germanistin Ulrike Arndt auf eine Reise ins mittelalterliche Neuss, das 1474 nur "zwei Bogenschuss lang war": "Damals war die Stadt nur einen Kilometer lang. Das Zentrum war der Münsterplatz, hier trafen sich die Bürger."
Karl der Kühne, Herzog von Burgund, sah in der Eroberung von Neuss den Schlüssel zu Köln und schlug sein Quartier im Klostergarten nahe des Obertors auf. "In Rundzelten mit Seide und Stuck residierte er dort, während die Neusser nur 4.000 Männer aufstellen konnten, um ihre Stadt zu verteidigen."
Besonders die freien Felder vor dem Nieder- und Hammtor belagerten die Burgunder, wo die Bauern hindurch mussten, um ihre Arbeit zu tun. Das Neusser Heer rüstete sich mit Stich- und Hiebwaffen und war laut einer burgundischen Chronik von Jean Molinet "wiederborstig, aggressiv und kämpferisch".
An den Überresten der Stadtmauer angekommen, die die Promenade am Hamtorplatz ziert, erzählt Arndt eine Geschichte, die von der Not, aber auch vom Glück der Neusser handelt: "Eines Tages im Kampf waren die Schießpulvervorräte aufgebraucht. Ohne die Kanonen hätten sich die Neusser nicht mehr lange verteidigen können."
Abhilfe schaffte Köln: Die Domstadt schickte 550 Männer mit Salpeter, das mit Schwefel und Kohle das Schießpulver ergab. "Die Burgunder ließen sich in die Irre führen: Sie glaubten Verstärkung aus der Heimat zu bekommen und ließen die Reiter hindurch ziehen. So konnten die Kölner das Pulver an die Neusser übergeben."
Dem erfolgreichen Widerstand zum Trotz: Die Neusser hatten Angst, berichtet Arndt aus der Chronik. Die Lebensmittel neigten sich dem Ende zu, Boten ertranken im Wasser hinter den Stadtmauern und der Blutturm im heute idyllischen Stadtgarten war ein Ort des Schreckens: "Hier wurden Gefangene verhört und gequält."
Höhepunkt des Rundgangs war der abschließende Besuch der Obertorkapelle, in der einst die Neusser Gott um Hilfe baten. "Das Versprechen aber, nach erfolgreicher Verteidigung jeden Samstag eine Messe zu lesen, hielten die Neusser nicht ein", verrät Arndt. Nach der Führung sind sich alle einig: "Wir sehen Neuss nun mit anderen Augen."