Rückblick: Knochenjob in der Glashütte

Für Karin Stieber war es nicht immer leicht, Arbeit und Familienleben zu vereinen.

Haßlinghausen. Kindergeld, Erziehungsgeld, Krippenplätze - Karin Stieber kann darüber nur müde lächeln. Als ihre Kinder in den Jahren 1958, 62 und 71 geboren wurden, bekam sie trotz ihres Ganztagsjobs noch nicht einmal einen Kindergartenplatz. Viel Kraft und Flexibilität kostete es sie, die Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen. Oft musste sie sich anhören: "Bei Dir kann es ja nicht sauber sein."

Freilich, die Fenster putzte sie nicht zweimal die Woche wie manche Nachbarin. Dafür scheuerte sie aber täglich den Kohleherd blitzeblank. "Das stank bestialisch." An den großen roten Topf kann sie sich noch gut erinnern, in dem sie die Windeln auskochte, die anschließend auf einer Leine über dem Herd trockneten und dann noch gebügelt werden mussten. "Sonst waren die zu steif, das ließ sich nicht wickeln."

Schwere Arbeit war Karin Stieber von Jugend an gewöhnt, obwohl sie eigentlich gerne Hebamme geworden wäre. Schon mit 13 Jahren kam die Bauerstochter aus der Schule, weil sie ein Jahr übersprungen hatte. Zwei Jahre landwirtschaftliche Berufsfachschule schlossen sich an. Als jedoch 1953 im Osten die Bauern enteignet wurden, um Kolchosen zu gründen, flüchtete die Familie über Berlin in den Westen.

"Wir kamen von einem Auffanglager ins nächste. Überall gab es Wanzen und Flöhe", ekelt sie sich noch heute. 1956 dann zog die Familie nach Haßlinghausen, weil ein Onkel dort wohnte. Das junge Mädchen begann, in der Glashütte als Schleiferin zu arbeiten und stellte sich so geschickt an, dass sie genauso viel Geld verdiente wie voll ausgebildete Kolleginnen.

Die Arbeit war jedoch gefährlich: "Oft sind einem die Gläser in der Hand explodiert und ich musste genäht werden oder die Schnitte haben sich furchtbar entzündet. Geblutet hat es bei uns jeden Tag." Deshalb wechselte die Haßlinghauserin in die Endkontrolle. In der Hütte lernte sie auch ihren Mann kennen und schmiedete alsbald mit ihm zusammen Pläne, ein Haus für die junge Familie und ihre Eltern zu bauen.

Nach der Geburt des zweiten Kindes entschied sie sich deshalb für die anstrengende, heiße Tätigkeit der Ausbläserin - dort konnte sie mit ihrem Mann die Schichten abwechseln. Er arbeitete von 6 bis 14 Uhr, sie von 14 bis 22 Uhr. "Die letzten beiden Stunden hat mir dann noch mein Mann abgenommen, damit ich die Kinder ins Bett bringen konnte", erzählt Karin Stieber. "Das war ein ganz schöner Hammer."

Und schon sechs Wochen nach der Geburt stand sie wieder an ihrem Platz. Nach Schließung der Glashütte 1967 fing sie bei der Haßlinghauser Firma Coroplast als Elektrokabelsatzformerin an. Auf einem schrägen Brett musste sie im Stehen Unmengen von Kabeln um Nägel herum in Form legen.

48 Minuten dauerte es, bis ein Satz für einen Kopierer fertig war - und dann kam erst die Kontrolle, ob alles funktionierte. "Wenn eins kaputt war, musste man es mühsam wieder rausfädeln." Obwohl sie wegen der unergonomischen Haltung oft Rückenschmerzen hatte, meint sie: "Das war eine sehr schöne Zeit. Wir waren wie eine Familie."

Nach einer Zwangspause wegen fehlender Aufträge befestigte sie die Kabel ab 1976 zu Hause. "Da habe ich dann nebenher mit meiner Tochter Kopfrechnen geübt." Später arbeiteten auch ihr Mann und Sohn bei Coroplast. "Mit 54 Jahren musste ich dann leider aufhören, der Rücken hat nicht mehr mitgemacht." Die Kabel jedoch werden auch heute noch per Hand gesteckt - allerdings zunehmend im Osten.