Der Beginn des Holocaust

Vor 75 Jahren richteten deutsche Truppen ein Massaker an — unter der Führung zweier Wuppertaler.

Foto: Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland

Wuppertal. Wer nach den Gründen für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen fragt, wird nicht bei den Opfern, sondern eher bei den Tätern danach suchen müssen. Die Begegnungsstätte Alte Synagoge hat in ihrer Funktion als Ort des Gedenkens und der Aufklärung deshalb auch stets zu NS-Tätern recherchiert, deren Spuren in unsere Stadt führen. Das Spektrum ist erschreckend vielfältig: Es umfasst den Gauleiter ebenso wie den Eichmann-Mitarbeiter in Berlin, den Gestapochef von Kiew, SS-Einsatzkommandoführer und Polizisten an der „Ostfront“, den Kommandanten eines Zwangsarbeiterlagers in Polen und Schützen an den Erschießungsgruben. Ein besonders grausames Verbrechen geschah vor genau 75 Jahren, am 27. Juni 1941, in Bialystok.

Foto: Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland

Die nordöstlich von Warschau gelegene Stadt, in der mehr als 40 000 Juden lebten, war seit 1939 von der UdSSR annektiert worden. Die unter Mitverantwortung von zwei Wuppertaler Polizeioffizieren durchgeführte Mordaktion gilt unter Fachhistorikern als Auftakt zum Holocaust und fand nur fünf Tage nach Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion statt.

Das sogenannte „Unternehmen Barbarossa“ war ein rassistisch aufgeladener Weltanschauungskrieg. Generaloberst Erich Hoepner, 1937/38 als Divisionskommandeur in Wuppertal stationiert und später als Hitler-Gegner glorifiziert, sah ihn als „Kampf der Germanen gegen das Slawentum“, als „Verteidigung europäischer Kultur gegen asiatische Überschwemmung“ und als „Abwehr des jüdischen Bolschewismus“.

Mit diesem Feindbild zogen auch die beiden Wuppertaler Polizeioffiziere am 22. Juni 1941 in den als „Kreuzzug“ stilisierten Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Hauptmann Rolf-Joachim Buchs, Sohn eines Elberfelder Polizeioffiziers, und Oberleutnant Heinrich Schneider, gelernter Kaufmann aus Barmen, waren als Angehörige des Kölner Polizeibataillons 309 am Morgen des 27. Juni kampflos in Bialystok eingerückt. Die der Wehrmacht unterstellte Einheit sollte die Stadt „von russisch versprengten Truppen und deutschfeindlicher Bevölkerung“ säubern. Schon dabei kam es zu Plünderungen und Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung. Als der Bataillonskommandeur die rund um die Hauptsynagoge der Stadt lebende jüdische Bevölkerung zusammentreiben ließ, eskalierte die Gewalt. Bei der maßgeblich von Schneider angetriebenen Razzia im „Judenviertel“ gingen die Polizeiangehörigen mit großer Brutalität vor. So wurden jüdischen Männern die Bärte angezündet oder abgeschnitten. Heinrich Schneider tötete mehrere Juden bei der Durchkämmungsaktion durch gezielte Einzelschüsse, andere wurden auf seine Anordnung durch Genickschuss umgebracht.

Gegen Nachmittag trieben dann Buchs’ und Schneiders Untergebene rund 800 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Hauptsynagoge und setzten das Gotteshaus dann mit Benzin und Handgranaten in Brand. Die um die Synagoge einen Absperrring bildenden Polizisten schossen auf jene Menschen, die aus dem brennenden Gebäude zu fliehen versuchten. Den Zeugen, darunter auch einheimische Kollaborateure, muss sich ein Bild des Schreckens geboten haben. Bevor die Synagoge in Flammen aufging, stimmten einige der Eingesperrten ein choralähnliches Lied an, das in ein vielstimmiges Geschrei um Hilfe überging. Kompanieführer Buchs, von dem Mordeifer seiner Männer offenbar selbst erschrocken, ließ sie gewähren. Er befahl die Einstellung des Gewehrfeuers erst, als kein Lebenszeichen mehr aus der Synagoge drang. Für ihren „Einsatz“ in Bialystok wurden Buchs und Schneider mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet.

Die Einzelheiten dieses Verbrechens gelangten erst nach jahrelangen Ermittlungen und durch den spektakulären Wuppertaler Bialystok-Prozess von 1967/68 ins öffentliche Bewusstsein. Das Verfahren gegen die Hauptangeklagten Buchs und Schneider sowie weitere zwölf ehemalige Bataillonsangehörige fand bezeichnenderweise im Saal 300 des Wuppertaler Polizeipräsidiums statt. Der Prozess lieferte nicht nur bedrückende Erkenntnisse über die aus ideologischem Eifer, Machtrausch, Gleichgültigkeit und Opportunismus gespeisten Motive der beiden Haupttäter; er zeigte zudem, wie leicht es ihnen gemacht wurde, nach 1945 als „ganz normale Männer“ ihre beruflichen Karrieren fortzusetzen: Buchs als Leiter einer Hundertschaft der Wuppertaler Bereitschaftspolizei und Staatsbürgerkundelehrer, Schneider als Abteilungsleiter des renommierten „Goldzack“-Textilunternehmens.