Alte Synagoge Die Qualität der Erinnerungskultur ist wichtig
Michael Okroy von der Gedenkstätte Alte Synagoge spricht über Gedenken und Justiz.
Wuppertal. Michael Okroy von der Gedenkstätte Alte Synagoge spricht im Interview mit der WZ über Gedenken und Justiz.
Herr Okroy, die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen einen 92-Jährigen aus dem Raum Wuppertal eingeleitet, der im KZ Stutthof bei Danzig arbeitete. Ist eine solche späte Ermittlung sinnvoll?
Michael Okroy: Als Angehöriger der Lagerwachmannschaft war er Teil eines verbrecherischen und inhumanen KZ-Systems - egal, wo er in Stutthof tätig war. Alles dort diente dem Ziel der Vernichtung von Menschen. Dafür muss er ungeachtet seines Alters zur Verantwortung gezogen werden. Das gebietet schon die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und Überlebenden dieser Verbrechen.
Hat die deutsche Nachkriegsjustiz bis in die Neuzeit eigentlich bei der Jagd auf Nazi-Verbrecher versagt? Gibt es dafür Gründe?
Okroy: Neuere Forschungen gelangen hier zu einem differenzierten Bild, bei dem juristische Grundlagen ebenso wichtig sind wie das politische und gesellschaftliche Klima der so genannten Vergangenheitsbewältigung. Einerseits fehlte es der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz anfangs am glaubhaften Interesse und Eifer, NS-Täter aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Einige vom Bundestag verabschiedete Gesetze begünstigten dies. Andererseits gibt es seit 1958 die berühmte „Zentrale Stelle“ der Landesjustizminister in Ludwigsburg. Sie führte tausende von Vorermittlungen gegen Täter, die oft in Anklagen und Prozessen mündeten. Aber die Bilanz ist ernüchternd. Vor deutschen Gerichten - sowohl in West als auch Ost - mussten sich gerade einmal acht Prozent der NS-Täter verantworten.
Gibt es Zahlen, wie viele KZ-Aufseher wie der 92-Jährige in den vergangenen Jahrzehnten von der Justiz unbehelligt bis zu ihrem Tod in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR leben konnten?
Okroy: Etwa 250 000 Deutsche waren nach neueren Erkenntnissen als „Direkttäter“ an NS-Verbrechen beteiligt. Viele davon gehörten zu den KZ-Lagerwachmannschaften. Westdeutsche Gerichte verurteilten insgesamt 6700 Personen, ostdeutsche rund 12 000. Die Zahl der bis zu ihrem Tod unbehelligt lebenden Täter ist also deprimierend hoch.
Welche Bedeutung hat der 27. Januar als Gedenktag mittlerweile in der Wahrnehmung der Gesellschaft?
Okroy: Der Gedenktag ist inzwischen breit akzeptiert. Er bietet vielen gesellschaftlichen Gruppen, beispielsweise Schulen, Kirchengemeinden, Bürgerinitiativen, Vereinen, Politikern, die Möglichkeit, Zeichen der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen zu setzen. Außerdem ist der Gedenktag ein guter Anlass, uns als eine demokratische und ihrer Verantwortung bewusste Gesellschaft zu vergewissern und dies auch sichtbar zu machen.
Die Begegnungsstätte Alte Synagoge in Wuppertal ist das einzige Museum seiner Art im Bergischen Raum. Wird es auch genutzt?
Okroy: Die Begegnungsstätte wird als Museum, Veranstaltungsort und wegen ihrer fachlichen Expertise zur jüdischen Geschichte und zur NS-Zeit stark genutzt. So zum Beispiel auch von den bergischen Schulen. Es gibt etwa eine Bildungspartnerschaft mit der Alexander-Coppel-Gesamtschule und mit dem Röntgen-Gymnasium in Remscheid-Lennep. Regelmäßig kommen Besucher und Besucherinnen aus der Region, Kirchengemeinden, Geschichtsvereine, Einzelpersonen und Berufsgruppen, ins Haus.
Wie wichtig ist eine Begegnungsstätte wie die Alte Synagoge, um dem Vergessen der Nazizeit entgegen zu wirken?
Okroy: Heute geht es weniger darum, gegen das „Vergessen“ anzugehen, sondern mehr um die Qualität der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Sie muss faktenbasiert sein, den Austausch mit den letzten Zeitzeugen des Holocaust und ihren Nachfahren pflegen, auf Gerechtigkeit und Mitgefühl zielen, Verantwortung, Wissen und ein politisches Bewusstsein stärken. Das schützt auch gegen Rechtspopulismus.
Wie beurteilt in diesem Zusammenhang die Begegnungsstätte das neue Zentrum für verfolgte Künste in Solingen? Gibt es bereits eine Zusammenarbeit?
Okroy: Das Zentrum ist eine gute Einrichtung. Sie beschäftigt sich mit einem Verfolgungsthema, das immer noch etwas unterbelichtet ist und dessen Kern sehr aktuell auf die Gegenwart von Verfolgung verweist. Eine Zusammenarbeit gibt es bisher nicht.