Kritischer Blick auf die Gegenwart des Antisemitismus Diskussionsreicher Vortrag von Steffen Klävers in der Alten Synagoge in Wuppertal

Wuppertal · Warum haben viele nach dem 7. Oktober 2023 so verhalten auf das Massaker an Israelis reagiert?

Dr. Steffen Klävers, Berlin (links) mit Michael Okroy

Foto: Andreas Fischer

Wo bleibt hierzulande die Anteilnahme mit mehr als tausend ermordeten Männern, Frauen und Kindern? Einen Erklärungsansatz bot der Vortrag „Historikerstreit 2.0 und die Gegenwart des Antisemitismus“, den Steffen Klävers am Donnerstag vor 40 Zuhörern in der Alte Synagoge in Elberfeld hielt.

Der Berliner Literaturwissenschaftler und Antisemitismusforscher sollte eigentlich im vergangenen Jahr in der Begegnungsstätte sprechen, musste aber wegen Krankheit absagen. An der Aktualität des Themas ändere das nichts, so Veranstalter Michael Okroy. Weiterhin positioniere sich ein Großteil der sich progressiv verstehenden Linken wie auch Vertreter der Kulturszene pro-palästinensisch.

Einen Grund für diese Einseitigkeit sieht Klävers in der postkolonialen Interpretation des Nahostkonflikts, die weltweit Anhänger findet. Nach dieser Deutung gilt Israel als Überbleibsel des westlichen Kolonialismus. Zur Diffamierung des jüdischen Staates als „letzte Kolonialmacht“, die bekämpft werden müsse, sei es dann nicht mehr weit. Postkoloniale Aktivisten ignorierten dagegen häufig den Terror von Hamas und anderen islamistischen Organisationen oder stellten ihn als legitimen Widerstand dar.

Mit Achille Mbembe geriet bereits 2020 ein Vordenker des Postkolonialismus ins Zwielicht. Kritiker nahmen dem Politikwissenschaftler besonders den Vergleich Israels mit dem früheren Apartheidsstaat Südafrika übel. Für Klävers ist diese Kontroverse ein Höhepunkt des „Historikerstreit 2.0“. Seit den 2000er-Jahren wurde immer vehementer über die Vergleichbarkeit von Holocaust und kolonialen Verbrechen debattiert. Einige Historiker beschreiben die „Präzedenzlosigkeit“ der Judenvernichtung als einen Glaubenssatz, der abgeschafft gehöre.

Der Kolonialismus als Ideengeber für die Shoah? Mit deutlichen Worten argumentierte der Vortragende gegen diese These. Seine Kritik setzte an der Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus an. Während sich die rassistische Ideologie zeitgleich mit der kolonialen Expansion ausgebildet habe, „geht der Antisemitismus bis in die Antike zurück“.

Antijüdische Vorurteile seien ursprünglich religiös und erst im 19. Jahrhundert rassisch begründet worden. Wer versuche, Antisemitismus lediglich als eine Variante von Rassismus zu deuten, werde seinem spezifischen Wesen nicht gerecht und übersehe den Hass auf Juden als zentrales Motiv für den Holocaust.

Dieser „blinde Fleck“ der postkolonialen Theorie erschwere nicht nur das Verständnis der Geschichte: „Wer Antisemitismus nicht erkennt, hat ihm auch nichts entgegenzusetzen.“ So bleibe die Auseinandersetzung der Theoretiker mit dem muslimischen Antisemitismus, der sich seit Oktober 2023 vermehrt auf deutschen Straßen zeigt, aus. Zugleich fehle mancherorts die Einsicht, dass Holocaust-Vergleiche die deutschen NS-Täter entlasten könnten. „Das ist das Gefährliche an der Debatte“, so Klävers.

Beim Publikumsgespräch wunderten sich mehrere Gäste, dass der Postkolonialismus in Deutschland so heiß diskutiert werde – anders als in Ländern wie Frankreich, die eine viel längere Kolonialgeschichte haben. Ein Teilnehmer nannte die postkolonialen Deutungsmuster „eine ausgeklügelte Delegitimierung“ der deutschen Israel-Politik.

Klävers hält die Einteilung der Welt in „Kolonisierte und Kolonisatoren“ aus verschiedenen Gründen für anschlussfähig: „Viele fühlen sich dadurch ermutigt, gegen Israel Partei zu ergreifen. Es ist ein neues Angebot für die, die den Schlussstrich ziehen wollen.“ Bedenklich sei, dass das vereinfachende postkoloniale Weltbild gerade junge Menschen mobilisiere: „Das gibt einem ein gutes Gefühl, es fühlt sich richtig an, gegen den ‚Genozid‘ in Gaza zu sein.“ Die Algorithmen der sozialen Medien förderten solche Einstellungen noch. Antijüdische Positionen seien dort verbreiteter als Solidaritätsbekundungen mit Israel und seiner Bevölkerung.