Von Schrecken und Vertrauen Richter beim Wuppertaler Auschwitz-Prozess: „Gott hätte nur den kleinen Finger heben müssen“

Wuppertal · Norbert Koep war als Richter am Wuppertaler Auschwitz-Prozess beteiligt. Was er dabei erlebte – und wie es ihn veränderte.

Norbert Koep war als Richter beim Verfahren gegen den SS-Unterscharführer Gottfried Weise eingesetzt.

Foto: Fischer, Andreas

Für Norbert Koep ist Gott als Allmächtiger nicht mehr vorstellbar. Diese Erkenntnis entstand für den Wuppertaler Richter im Verlauf eines Gerichtsprozesses, der als Auschwitz-Prozess in die Geschichte einging.

Der heute 79-Jährige begleitete als beisitzender Richter das Verfahren gegen den SS-Unterscharführer Gottfried Weise, der 1944 im Alter von 23 Jahren als Aufseher im KZ Auschwitz-Birkenau eingesetzt war. Er wurde 1988 wegen fünffachen Mordes an KZ-Häftlingen, darunter auch Kindern, vor der Großen Strafkammer des Wuppertaler Landgerichts zu lebenslanger Haft verurteilt. Nachdem das Oberlandesgericht Düsseldorf seine Revision 1989 abgelehnt hatte, flüchtete Weise in die Schweiz. Zwölf Wochen später konnte er ausfindig gemacht und inhaftiert werden, 1997 wurde er aufgrund einer Krebserkrankung begnadigt. Er starb drei Jahre später in Solingen, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte unbehelligt als Bautechniker tätig gewesen war.
Zusammen mit dem Vorsitzenden Richter Wilfried Josef Klein organisierte und leitete Norbert Koep 30 Zeugenaussagen ehemaliger SS-Mitglieder und zahlreicher jüdischer KZ-Häftlinge. „Manche Zeugen äußerten, wir würden Unmögliches verlangen, nämlich die Erinnerung an Tatabläufe, die diese nach eigenen Worten verdrängen mussten, um überleben zu können.“ So sei er zur Vernehmung einer Zeugin nach Ungarn gefahren. „Da ihre Aussage so relevant war, erklärte sie sich bereit, nach Wuppertal zu kommen, obwohl sie sich geschworen hatte, deutschen Boden nie wieder zu betreten.“ Die Befragungen seien jedoch so einfühlsam erfolgt, dass viele Zutrauen hatten. Dennoch sei es schrecklich gewesen, während des Prozesses zu erleben, „wie die Bilder in ihnen hochkamen, wie Zeugen weinend zusammenbrachen. Es ist etwas anderes, ob man nur liest, dass Zehntausende umgebracht wurden, oder ob man Zeitzeugen persönlich begegnet und erfährt, wie sie inhaftiert, erniedrigt und geschunden wurden.“

Während des Prozesses betreute Koep zudem Schulklassen aus Wuppertal, die als Zuhörer das Verfahren verfolgten. „Meine Aufgabe war es, Schülern, die aus einer Hauptverhandlung kein vollständiges Bild des Prozesses bekommen können, erklärend zur Seite zu stehen.“ Jugendliche neigten dazu, nicht erkennen zu lassen, wie sehr sie etwas berührt. „Aber überwiegend waren die Schüler tief beeindruckt.“ Auch nach dem Prozess besuchte er Klassen und Gewerkschaften, um über seine Erfahrungen zu sprechen und Aufklärung zu betreiben.

Obwohl der 79-Jährige in der evangelischen Gemeinde in Sonnborn als Presbyter tätig war, habe der Glaube in ihm durch den Gerichtsprozess eine Veränderung erfahren. „Über viele Jahre hat mir der christliche Glaube eine Heimat gegeben, aber während des Prozesses hat eine Situation eines Wandel ausgelöst: „Am Ende einer Zeugenvernehmung wird gefragt, ob Vereidungsanträge gestellt werden, also der Zeuge seine Aussagen als richtig beschwören soll.“ Der Vertreter der Staatsanwaltschaft habe darauf bestanden. „Der Zeuge wurde belehrt und hatte schon die rechte Hand gehoben, da sagte der Vorsitzende Richter, dass er den Eid mit oder auch ohne religiöse Beteuerung leisten könne. Daraufhin hat er die Hand fallen lassen und halblaut gesagt: ‚Die Anrufung Gottes ist nach Auschwitz nicht mehr nötig.‘ In diesem Moment hatte ich das Gefühl, das Gebäude meines religiösen Glaubens rutscht wie auf Sand gebaute Stelzen.“ Für ihn sei die Vorstellung unerträglich, „dass Gott nur den kleinen Finger hätte heben müssen, um das Elend zu beenden“. Allerdings habe es auch etwas Beruhigendes, „nicht mehr auf jemanden vertrauen zu müssen, den man so oft nicht begreifen kann.“