Freies Netzwerk Kultur Wuppertaler Kulturkolumne: Was bist du wert?

Wuppertal · Das Leben mit der Kunst erscheint im Zerrspiegel der Vernunft.

Max Christian Graeff

Foto: C. Paravicini

Um fünf Uhr früh bietet der kleine Novembergarten eine recht unspektakuläre Kulisse: es ist nurmehr finster, klamm und still. Das Leben hat sich tief in die Haufen verkrochen; unhörbar seufzt etwas im Wurzelwerk und ganz selten reflektiert ein hungriges Augenpaar am Kompost das Licht der Schreibtischlampe. Erst die nächste Schneedecke zeigt morgens wieder das Passagenwerk der Nacht. Es ist ein fast adventliches Warten auf die kalte Zeit, die nach der Antwort strebt, wer sie wohl überleben wird. Zeit zum Nachdenken ohne Ziel und Antwort, darüber, was man einst denn anfangen wollte in diesem Leben mit dem Theater, der Dichtung und Musik … Spätestens um Sechs ist es aber mit der Grübelei vorbei; zwei städtischen Laubsauger tanzen warnblinkend einen eleganten Tango um die ruhenden Autos herum und rufen zur Ordnung: Lass die Zeilen fahren wie die Hoffnung; schick das Formulieren tief unter die Wurzeln, denn dein Atmen kostet heute wieder Geld! Mach was Vernünftiges! Und klage nicht, denn diese Sorgen hast du immer schon gewusst.

Tatsächlich kann ich nicht das Gegenteil behaupten. Man hat das Kind gelobt für jedes wilde Bild und all die langen Briefe, für Wendungen und Schnörkel, Geschichtendurst und Neugier auf die Farben. Alte Tanten sprachen von Talent! Als sich später jedoch inmitten der globalen Kulisse aus Herrschaften, Zerstörungen und Aneignungen der Entschluss festigte, unter all dem Getöse hindurchzutauchen und auch das Arbeitsleben mit suchenden Schritten durch die Kunst und Kultur zu verbringen, da verwarf man die Hände in Sorge um das Glück. Doch dieses lag schon fern des sogenannten Normativen; der Drops war längst gelutscht.

Seitdem geht es um Gegenwerte, Selbstausbeutung, Gesundheit und Sicherheiten, das eine so fern wie das andere nah. Es wird kontiert, geschoben, gebettelt und geborgt, und sobald hier eine kleine Reserve entstand, gab es dort einen Schiffbruch, in dem sie wieder unterging. Es geht um das Ringen um Honorare und um die geforderten Dankbarkeiten, überhaupt welche zu bekommen. Von dieser Überlebenskunst wurde seit jeher vieles dichterisch berichtet, doch im kulturpolitischen Alltag, im Auf und Ab der Zugeständnisse und Mildtätigkeiten spielen die Existenzen der Kunstaktiven immer noch keine Rolle. Sie hätten ja die Wahl gehabt, ihre TikTok-Profile kurz vor der Rente mit den Fetträndern der Wagyu-Steaks zu dekorieren. Wer dieses Glück nicht will, soll nicht nach anderem fragen.

Natürlich ist alles sehr viel komplizierter. Der Preis für das prekäre Leben in der sogenannt freien Kunst ist unabdingbar, doch die frühe Entscheidung bleibt so richtig wie unumkehrbar. Die Ausnahmen, die mit ihrem Wollen und Müssen über die Runden kommen, dienen nicht als Vergleich. Sage ich heute, dass der große Durchbruch kurz bevorsteht, muss niemand mehr fragen, ob die Bekanntheit oder der Rücken gemeint ist. Diesen schont kaum jemand der jungen Kunsttreibenden; sie zerschleißen ihn seit jeher auf dem Bau und in Fabriken, als Dienstleistende im oder unterm Mindestlohn, bestenfalls mit Kleinauftritten in den wenigen Kultur-Adventskalendern. Auch die kulturellen Selbstausbeuter sind – wie alle, die in sozialen, pflegenden, helfenden Bereichen – dringend nötig für eine menschliche Gesellschaft, und sei es auch nur als lebende, talentierte Weihnachtsdekoration. Das sind die Wintermomente in einem Leben, das bei allen Zweifeln anders nicht möglich schien. – Wie hätte es sonst verlaufen können? Laubsaugerfahrer war ein früher Berufswunsch. Auch das wäre nicht schlecht gewesen, dann hätte ich mich heute früh selbst aus den Gedanken gerissen.

Ihre Gedanken wie immer an: