Krawalle in Frankreich: Jugendliche schießen auf Polizisten

In der Pariser Vorstadt eskaliert die Gewalt. Die Polizei spricht vom bewaffneten Kampf einer „Stadt-Guerilla“.

Paris. "Warum haben die das gemacht? Haben diese Brandstifter keine kleinen Brüder oder Schwestern?" Fassungslos steht Christelle (27) mit Töchterchen Alina (4) vor den Trümmern der Leihbücherei und der Vorschule von Villiers-le-Bel. Verkohlte Kinderbücher liegen aufgeweicht im Dreck, in den ausgebrannten Räumen riecht es beißend. Die kleinen Stühle und Tische sind rußgeschwärzt, Metallstreben verbogen.

"Wir wollen unseren Kindern doch Bildung verschaffen. Und dann wird der Ort, wo sie die bekommmen, einfach abgefackelt."

Glasscherben knirschen unter den Schuhen. Die meisten Decken der flachen, sechseckigen Gebäude aus Beton-Fertigteilen mitten auf grüner Wiese sind eingestürzt. Ein Schal, eine angekokelte Mütze hängen noch an einer Garderobe. Wundersam unversehrt ist nur die bunte Rutsche im Innenhof. "Sich an einer Schule zu vergreifen, ist eine Schande", sagt ein Vater aufgebracht. "Wir wollen unseren Kinder doch Bildung verschaffen. Und dann wird der Ort, wo sie die bekommen, einfach abgefackelt." Auch Frankreichs Premierminister Francois Fillon wirft einen Blick auf den ausgebrannten Gebäudekomplex mitten im Zentrum der Pariser Vorstadt, verspricht finanzielle Hilfe für den raschen Wiederaufbau. Am ausgebrannten Aldi-Supermarkt, der abgefackelten Fahrschule und dem niedergebrannten Frisörsalon schaut Fillon schon nicht mehr vorbei. In Paris, nur 20 Kilometer und doch Welten entfernt, warten dringende Beratungen zur inneren Sicherheit. Die Lage ist angespannt. In zweiter Nacht in Folge haben Villiers-le-Bel, aber erstmals auch einige Nachbar-Kommunen der nördlichen Pariser Banlieue Gewaltszenen erlebt, die selbst nach Darstellung der Straßenkampf erprobten CRS-Antiaufruhr-Polizisten alles in den Schatten stellte, was man bisher gewohnt war. Mit Molotow-Cocktails, mit Steinen und Eisenstangen, vor allem aber auch Schrot- und Jagdgewehren wurden die Polizisten offenbar gezielt angegriffen. Selbst Zehnjährige sollen dabei mitgemacht haben, während die Älteren Fluchtwege sicherten, die Aktionen mit den Handys filmten oder ausgerüstet mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschilden den Nahkampf mit versprengten Polizisten suchten. Eine CRS-Einheit, rasch hierher verlegt und ortsunkundig, wurde fast aufgerieben. "Die Kollegen hatten Todesangst", sagte der Kommandant im Radio. 78 Polizisten wurden bei den stundenlangen Auseinandersetzungen verletzt, fünf davon sogar schwer. Einer bekam eine großkalibrige Kugel in die Schulter, einem anderen droht der Verlust eines Auges. Wer schießt, "ist ein Krimineller", sagt der Premier entschlossen. Auch die Polizeigewerkschaften sehen eine Tabu-Grenze überschritten und schlagen Alarm. "Das war die Attacke einer Stadt-Guerilla", meinte Polizei-Gewerkschafter Bruno Beschizza. "Wir steuern auf eine Katastrophe zu, wenn jetzt Schusswaffen gegen Polizisten eingesetzt werden", sagte sein Kollege Douhane Mohamed. Mundfaul geben sich die Jugendlichen, die an diesem Vormittag an den Autowracks im Zentrum der Pariser Vorstadt mit gerade 27000 Einwohnern vorbei spazieren. Ob sie dabei waren? "Vielleicht", kommt die knappe Antwort.

Die Jugendlichen werfen der Polizei Mord vor

In den Augen dieser 15-, 16-Jährigen, die zu dieser Zeit eigentlich in der Schule sein müssten, ist die Gewalt der Nacht nur eine Form legitimer Gegenwehr nach dem Verlust von Moushin und Larami, ihren gleichaltrigen Freunden, die am Sonntag Nachmittag auf ihrem Mini-Motorrad mit einem Polizeiwagen kollidiert und dabei tödlich verletzt worden waren. An die Unfallversion glauben sie nicht, sprechen von "Mord" .

Kommentar: Flächenbrand
von Joachim Rogge

Joachim Rogge, Westdeutsche Zeitung
Genau zwei Jahre nach den wochenlangen Krawallen, die Frankreich an den Rand des Abgrunds führten, ist die Gefahr eines erneuten Flächenbrands mit Händen zu greifen. Sollte es so kommen, drohen Frankreich schlimme Zeiten. Die Gewaltbereitschaft eines Teils der Vorstadtjugend ist in den letzten beiden Jahren offensichtlich noch einmal gewachsen. Inzwischen wird sogar geschossen. Das weckt schlimmste Befürchtungen. Keine Frage: Nur mit Härte kann der französische Staat auf derartige Angriffe reagieren. Aber Paris muss sich zugleich ernsthaft fragen lassen, welche Lehren eigentlich aus dem Aufstand des Jahres 2005 gezogen wurden. Offenkundig hat sich in den Vorstädten bislang wenig zum Besseren gewendet.

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