Auf Zeitreise: Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn

Moskau (dpa/tmn) - Knapp 9300 Kilometer sind es von Moskau bis Wladiwostok. Wer Russland kennenlernen möchte, muss die Strecke mit der Transsibirischen Eisenbahn zurücklegen. Den Kontakt mit Einheimischen gibt es gratis dazu.

Es ist eine Erinnerung an frühere Zeiten: Das rhythmische Rattern der Schienenstöße kennt man aus deutschen Waggons mittlerweile kaum noch. Wenn der Zug der Transsibirischen Eisenbahn durch das Riesenreich jenseits des Urals fährt, begleitet das Geräusch den Reisenden in den Schlaf und weckt ihn früh morgens.

Reisen auf dieser längsten durchgehenden Eisenbahnlinie der Welt bedeutet ein stetiges Zu- und Aussteigen von Reisenden und den Transport von Waren. In den Bahnhöfen stehen kilometerlange Züge mit Holz aus den unendlichen Wäldern Sibiriens oder Kohle und Erz für die Kraftwerke und Industriekomplexe in den Städten entlang der Strecke. Seit dem Baubeginn 1891 ist die Trasse der Transsibirischen Eisenbahn die Hauptschlagader des Russischen Reiches.

Die Reise beginnt in Moskau. Doch so richtig sibirisch wird sie erst in Krasnojarsk. Die Millionenstadt am Jenissej ist seit 380 Jahren das Tor nach Sibirien, von hier aus eroberten und besiedelten Kosaken den Osten. Die Universitätsstadt ist ein riesiger Mix aus sowjetischer Betonoptik, klassizistischen Gründerzeithäusern und herausgeputzten orthodoxen Kirchen.

Auf dem Bahnsteig unter der riesigen Stahlkonstruktion stehen Kioske, Marktfrauen bieten auf Bollerwagen Verpflegung für die Fahrt an: Gurken und Tomaten, Blinis und Brot, Fisch und Fleisch. Früh morgens steigen nur wenige aus, um sich einzudecken. Auf der Fahrt wird der Zug häufig an großen Bahnhöfen halten und sich dieses Bild wiederholen. Eine Dreiviertelstunde haben Reisende dann Zeit, sich die Beine zu vertreten, einzukaufen, in den Bahnhofsgebäuden zu duschen oder die Umgebung zu erkunden.

Aber Vorsicht: Der Zug fährt pünktlich ab, genauso wie er einfährt. Keine Sekunde Verspätung wird geduldet. An jedem Waggon steht eine Zugbegleiterin in blauer Uniform. Sie zählt die Reisenden beim Aussteigen und hat ein scharfes Auge darauf, dass jeder wieder einsteigt. Wer auf den letzten Drücker kommt, erntet böse Blicke und Verwarnungen. Das System funktioniert. Russland kann es sich nicht leisten, dass seine Hauptschlagader verstopft.

Wer als Tourist in die Bahn steigt, wird von der Zugbegleiterin in Empfang genommen, sie inspiziert kritisch Ticket und Visum. Ein kurzes Kopfnicken und mit einem Winken ist der Weg frei. Im Waggon ist es schummrig, die Jalousien sind noch heruntergelassen, die anderen Fahrgäste schlafen. Einige Türen sind angelehnt, darin manchmal leises Schnarchen, die Luft ist stickig. Fünf Abteile gibt es pro Waggon, in jedem Abteil rechts und links zwei Liegen mit rotem Kunstleder bezogen, am Fenster der Klapptisch, Gepäckfach über der Tür. Viele der Waggons sind bis in die 80er-Jahre hinein in der ehemaligen DDR gebaut worden.

Im Abteil sind nur die unteren Liegen frei, oben das Geräusch tiefer Atemzüge. Wohin mit dem Rucksack? Erstmal leise sein und schauen, wie man sich dort einrichtet. Auf die Sekunde genau geht ein Ruck durch den Zug, und langsam rollt er aus dem riesigen klassizistischen Bahnhofsgebäude. Im Bahnhof zeigt die Uhr noch kurz vor sieben, im Zug befindet man sich in einer anderen Zeitzone: Die Uhren der Transsibirischen Eisenbahn gehen nach Moskauer Zeit, die An- und Abfahrtszeiten auf den Fahrplänen genauso wie auf den Bahnsteigen. Und die Fahrt geht nach Osten, auf der Strecke kommen weitere zwei Stunden Differenz dazu.

Die Transsibirische Eisenbahn ist mehr als ein Zug: Sie ist ein ganzes Streckennetz zwischen Moskau und Wladiwostok, mit einzelnen Magistralen, wie der Baikal-Amur-Magistrale, die von Taishet bis Tynda im Norden den Baikalsee umrundet, und Abzweigungen, die in die Mandschurei oder über die Mongolei nach Peking und sogar nach Nordkorea führen. Nahezu jede größere Stadt unterhält ein eigenes Zugpaar, das im Pendelverkehr die Verbindung nach Moskau und sogar über St. Petersburg und Warschau nach Köln herstellt.

Auf der oberen Liege rührt sich etwas, Gähnen, ein Bein baumelt plötzlich über den Rand, der Fuß sucht nach dem Tritt am Gestell. Der Saum einer geblümten Kittelschürze wird sichtbar, kurz darauf steht eine vielleicht 60 Jahre alte Frau auf dem Boden, reibt sich den Schlaf aus den Augen und guckt interessiert. Sie fängt an Russisch zu reden. Wie ein Wasserfall. Dann nimmt sie sich Handtuch und Zahnbürste und geht. Nach der Rückkehr setzt sie sich auf die untere Liege an den Tisch, holt Brot und Wurst aus einer Tasche und schiebt schließlich ein Wurstbrot rüber. Das Wörterbuch liegt längst parat, es wird in den kommenden Wochen das nützlichste Reiseutensil sein.

Irina kommt aus der Ukraine, sie ist auf dem Weg nach Tynda, um ihre Tochter und die Enkel zu besuchen. Aufmerksam ist sie darauf bedacht, dass unwissende Gäste sich nicht verirren. Sie erklärt, wie es im Zug läuft: In jedem Waggon gibt es einen Samowar, der von den Zugbegleiterinnen geheizt wird — Teewasser ist überall kostenlos zu haben. Irina gibt Tee aus und erzählt dann vom Leben und Reisen in Russland, von ihrem Sohn, der noch bei ihr lebt. Mit Russen nicht zu reden, ist unmöglich. Sie wollen immer wissen, wo man herkommt, was man im Land sucht und erlebt.

Draußen vor dem Fenster gleiten die Außenbezirke einer Industriestadt vorbei: Plattenbauten und dazwischen ein Gewirr von Baukränen. In russischen Städten auch in Sibirien kann Wohnraum gar nicht schnell genug entstehen. Überall an der Strecke stehen unbekannte Städte, Bergwerke, Kraftwerke, Stahl- und Aluminiumhütten. Dann weichen die Betonkomplexe den Datschen: Die kleinen Holzhäuser stehen in großen Gärten, in denen die Kartoffeln blühen und Gemüse in Reihen wächst. Ab und an Vieh, immer eine Banja, die russische Sauna daneben. Fast jede russische Familie unterhält ein solches Ferienhaus.

Viele Mitreisende sind Familien auf dem Weg in die Ferien. Mit Sack und Pack kommen sie aus den Städten in den Wäldern an die Trasse, um ans Meer oder Richtung Moskau oder zum Zelten an den Baikalsee zu fahren. So wie Larissa, die vierte im Abteil, die nur nachts zum Schlafen und mittags für ein Nickerchen reinkommt: Irgendwo in dem kilometerlangen Zug sitzt ihr Mann mit den Kindern.

Die Tür zum Abteil geht auf. Die Zugbegleiterin steht darin und sagt irgendetwas auf Russisch. Sie will noch einmal die Tickets kontrollieren, blickt auf die Abteilnummer und reicht wortlos ein Paket in einer Plastiktüte herein. Darin befinden sich Bettlaken, Bezüge und Handtücher. Diese Frauen sind die unumschränkten Herrscherinnen der Waggons: Sie versorgen die Fahrgäste, saugen täglich den Teppich auf dem Flur und wischen in den Abteilen feucht durch. Sie bändigen trinkfreudige Jugendliche und wissen immer die aktuellen Preise für Lebensmittel auf dem Bahnsteig.

Draußen steigen die Temperaturen. Im Sommer herrschen weit über 30 Grad, im Zug ist es nicht kühler. Der Waggon erwacht zum Leben. Kinder laufen über den Gang. Erwachsene stehen an den Fenstern. Ein Mann bastelt einen Karton in ein geöffnetes Fenster. „Russische Klimaanlage“, sagt er grinsend.

Wer mit der Transsibirischen Eisenbahn reist, muss aussteigen — sonst ist es nur eine unendlich lange Zugreise. Denn nach den Datschen kommt das Land: In den kommenden drei Tagen ziehen nur noch die Bäume des größten Waldgebietes der Erde vorbei: Tannen, Föhren und immer wieder Birken - unendlich. Dazwischen liegen ab und an ein paar Wiesen mit Wildkräutern, manchmal ein namenloses Flüsschen. Es geht durch weite Ebenen und weiter im Osten durch Gebirge, in denen auch im Sommer die Gipfel schneebedeckt sind. Alle paar Hundert Kilometer liegen imposante Bahnhöfe an der Strecke.

Riesige Stahlkonstruktionen überspannen die Flüsse Jenissej, Angara und Lena unter den Schienensträngen der Transsib. Mit rund 13 Millionen Quadratkilometern Fläche wäre Sibirien für sich genommen der größte Flächenstaat der Erde - größer als die USA oder Kanada. Mit knapp drei Einwohnern pro Quadratmeter ist es jedoch sehr dünn besiedelt.

Und dieses Land kann man nicht nur aus der Bahn heraus entdecken. Die Reise endet vorerst in Ust'-Nyukzha: Zwei Wochen heißt es Zelten, Fischen und Jagen auf der Oljokma mit einem einheimischen Jäger und seiner deutschen Frau. Dann geht es zurück über Severobaikalsk am Baikalsee nach Irkutsk. Zwischen dem Ural und dem fernen Osten liegen Jekaterinburg, Omsk, Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk und in der Mongolei Ulan Bataar an den Strecken nach Peking und Wladiwostok. Der Reisende kennt sie aus Jules Vernes „Der Kurier des Zaren“. Heute sind sie eine Mischung aus Historie und Industrialisierung - eine Reise durch die Zeit.