Normandie Traumhaft unberührte Natur
Abwechslungsreich und malerisch präsentiert sich die Normandie im Westen Frankreichs. Küste und Hinterland sind ebenso interessant wie die Naturreservate.
Klingt abgedroschen, ist aber wahr: Wer am Meer entlang durch die Normandie fährt, erlebt Ansichten wie aus dem Bilderbuch. Auf ihren mehr als 600 Kilometern Küstenpanorama bietet die französische Region steile, weiße Felsklippen, einsame Buchten, verwunschene Gärten vor hübsch gepflegten Steinhäuschen. Dazu verschlafen und gleichzeitig romantisch anmutende Orte, etwa Ouistreham mit seinem pittoresken Leuchtturm oder Port-en-Bessin, wo sich der wichtigste normannische Jakobsmuschelhafen befindet und Fischer auf dem von kreischenden Möwen umflogenen Pier ihre grünen Netze flicken.
Farbspektakel im Juni
auf dem Kreideplateu
Wenige hundert Meter weiter spülen salzige Wellen an den Strand, dessen ungewohntes Schillern sich schon von Weitem ankündigt: Abertausende Schalen liegen dort, knirschen unter den Füßen der Spaziergänger. Ein Foto nach dem anderen machen sie von den Überresten des zweitägigen Festes „Le goût du Large“, das jedes Jahr im November im Ort gefeiert wird.
Ein farblich besonders schönes Phänomen beobachten Touristen im Juni auf dem Kreideplateau Pays de Caux zwischen der bekannten Alabasterküste und der Seine: Binnen weniger Tage erblühen die dort gelegenen Flachsfelder bei Sonnenaufgang zu einem sprichwörtlichen Teppich aus faszinierenden Weiß- und Blautönen.
Satte Grüntöne dagegen prägen die Veys-Bucht zwischen den Departements Calvados und La Manche. Dort fließt das Wasser der Flüsse Aure, Douve, Taute und Vire in den Ärmelkanal und nährt im Mündungsgebiet fruchtbares Marschland, in dem sich immer mehr Tiere ansiedeln – und von Touristen beobachtet werden können.
Vom Bauch auf den Rücken und zurück rollt sich die Robbe, Flossen abgespreizt, und blinzelt mit ihren Knopfaugen gegen den strahlend blauen Himmel. Ihre feinen Barthaare bewegen sich in der Brise sanft auf und ab, auf ihrem hellgrau-bräunlichen Fell glitzern Lichtreflexe. Einen Moment später ist das Tier hinter einer Ufer-Erhebung verschwunden. „Sie ist zum Sonnen an Land gekommen. Wahrscheinlich hat sie etwas gestört. Robben sind sehr empfindsam“, kommentiert Jean-François Elder das Phänomen.
Das Naturreservat
wurde 1980 gegründet
Eine bis zwei Stunden vor und nach der Ebbe ist zwischen Mai und Oktober die beste Zeit, um die artengeschützten Robben, die phoques veaux-marins, an der Baie des Veys zu beobachten. Nacheinander lässt der Franzose die Teilnehmer seiner Tour durch die Réserve naturelle nationale du Domaine de Beauguillot durch ein Fernrohr in Richtung Sandbänke schauen, die das 1980 gegründete Naturreservat in der Gemeinde Sainte-Marie-du-Mont im Herzen der normannischen Halbinsel Cotentin säumen. Die Kolonie vor Ort ist mit rund 150 Robben die größte der Normandie und zweitgrößte in Frankreich.
Unvermittelt verharrt Elder in seiner Bewegung. Einen Moment lang wirkt er abwesend. Kurz darauf hebt er seine Hand ans Ohr, beschirmt es mit den Fingern wie eine Muschel. Eine ganze Weile lauscht er, den Blick weg vom Meer ins Landesinnere gerichtet, auf die saftigen Wiesen- und Marschlandschaften.
Artenschutz
ist oberstes Ziel
„Hören Sie das?“, fragt er und ahmt präzise den Laut nach, der die Luft erfüllt. „Das ist eine Locustella naevia.“ Der Feldschwirl, ein Singvogel, bevölkert zusammen mit rund 230 weiteren Gefiederten wie dem Austernfischer, Alpenstrandläufer, dem Großen Bachvogel sowie Enten- und Möwenarten das mehr als 500 Hektar große Naturreservat – permanent oder den Winter über.
„Artenschutz ist unser oberstes Ziel und gleichzeitig unsere härteste Aufgabe“, sagt Elder. „Wir haben jedes Jahr mehr als 50 000 Vögel im Reservat. Es ist der erste und wichtigste Vogel-Beobachtungs-Hotspot in der Normandie.“ Aus Brutgebieten zwischen Frankreich und dem nördlichen Polarkreis kommen die Vögel. Viele von ihnen kehren früher in das Reservat ein als noch vor 30 Jahren – seit Ende der 80er-Jahre werden die Bewegungen aufgezeichnet, wie Elder berichtet.
„Sie kommen und gehen eher, manche Arten bleiben länger. Der Grund ist noch nicht ausreichend erforscht.“ Festgestellt haben Naturschützer auch, dass sich der Großteil der ansässigen Vogelarten stärker und schneller vermehrt als im globalen Durchschnitt. „Hier gibt es keine aggressiven Arten, die den Prozess behindern könnten“, erklärt Elder.
Das Quaken der Frösche
begleitet die Wanderer
Zu den Gefiederten gesellen sich etwa 1100 Wirbellose, fast 70 Weich- und mehr als 30 Säugetiere sowie ein Dutzend Amphibien- und Reptilienarten. Zu den fast 400 Pflanzenarten im Naturreservat von Beauguillot zählen seltene Exemplare wie das lockerblütige Knabenkraut, der Sumpf-Stendelwurz und die gewöhnliche Natternzunge. Ein ungefähr fünf Kilometer langer Rundweg, teils über den Deich mit Blick aufs Meer, umschließt aktuell das Territorium im Departement La Manche, geprägt von Watt, Schorren, Teichen und Feuchtwiesen.
Durch die üppig bewachsene Landschaft zu wandern, hat neben der Faszination, die Tier- und Pflanzenarten in ihrer natürlichen Umgebung zu erleben, etwas Meditatives: Je nach Jahreszeit ist das Areal menschenleer, Froschquaken, Flügelschläge, Kuckuck-Rufe, Vogel-Gesänge und Wind, der durch hohes Gras streift, formen eine einzigartige Klangkulisse.
Auf 18 Naturlehrpfaden
Wissenswertes erfahren
Mehr als 40 000 Touristen besuchen das Reservat jedes Jahr, das eingebettet ist in den 140 000 Hektar umfassenden Parc naturel régional des Marais du Cotentin et du Bessin mit seinen 30 000 Hektar Feuchtgebieten. Die 4600 Kilometer Wanderwege mit 18 Naturlehrpfaden, die das Areal in den Departements La Manche und Calvados durchziehen, sind mit Aussichtspunkten, Informationstafeln sowie Beobachtungsposten ausgestattet.
Besucher können das Gebiet nicht nur zu Fuß, sondern auch per Fahrrad oder vom Wasser aus per Ruderboot und Kanu erkunden.
Die Autorin reiste mit Unterstützung des Normannischen Tourismusverbands und Atout France.