Der Schicksalstag der deutschen Geschichte
Der 9. November ist Feier- und Trauertag zugleich
Was sagen wir unseren Kindern und Enkelkindern, was am Sonntag für ein Tag ist? Ist es der Tag, an dem 1989 die Mauer fiel? Oder vor allem der Tag, an dem 1938 die Synagogen brannten? Der Tag, an dem 1918 die Republik ausgerufen wurde, gegen die Hitler 1923 ebenfalls am 9. November in München erst noch vergeblich putschte?
In keinem anderen Datum spiegelt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts so sehr wie im 9. November. Der 9. November ist ein Feiertag der Freiheit, des Aufstands gegen Unterdrückung und Tyrannei. Und er ist ein Trauertag, der symbolisch für das historisch beispiellose Verbrechen der Shoa steht, des deutschen Völkermords an sechs Millionen europäischen Juden.
Der Feiertag lässt sich vom Trauertag nicht trennen. Beides steht im gleichen historischen Zusammenhang: Die verunglückte Geburt einer Republik ohne Demokraten 1918 barg in sich die Voraussetzung für ihr Scheitern und die Nazi-Herrschaft. Die deutsche Teilung und die Mauer waren eine direkte Folge der Nazizeit. Wie also umgehen mit diesem Schicksalstag der Deutschen?
Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, hat im April dieses Jahres vor dem Pessach-Fest beschrieben, was die Aufgabe im Umgang mit der Shoa ist: „Nun muss sich das historische und gesellschaftspolitische Desiderat realisieren, dass die Erlebnisgeneration den Stab der Erinnerung an die Erkenntnisgeneration übergibt. Eine Erkenntnisgeneration, die die Formel ,Nie wieder!’ nicht zu einer leeren Hülse verkommen lässt, solange wir täglich in den Nachrichten des Gegenteils von ,Nie wieder!’ ansichtig werden. Eine Erkenntnisgeneration, die die Geschichte eigeninitiativ analysiert, um es hier, heute und künftig besser zu machen. Das ist mein Wunsch für unser Land.“
Genau dies, den Weg von der Erinnerung an den glücklichen Fall der Mauer in die Erkenntnis zu gehen, dass die Vollendung der Einheit in Freiheit immer wieder verteidigt werden muss, ist auch die Aufgabe im Umgang mit dem 9. November 1989. Damit unser Land weiter im Glanze jenes Glückes blüht, das das Deutschlandlied besingt: des Glücks von Einigkeit und Recht und Freiheit.