Meinung Die Grünen boxen oberhalb ihrer Gewichtsklasse

Meinung · Die Grünen kommen in diesen Tagen wohl selbst nicht aus dem Staunen heraus. In den Wahlumfragen auf schwindelerregende Höhen katapultiert, wird inzwischen sogar ernsthaft über eine grüne Kanzlerkandidatur debattiert.

In einer Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“ sagten 51 Prozent der Befragten, wenn sie den Kanzler direkt wählen und zwischen Habeck und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer entscheiden könnten, würden sie für Habeck votieren.

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Laut einer neuesten Erhebung würde jeder zweite Bürger für Parteichef Robert Habeck votieren, aber nur jeder vierte für die glücklose CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Das stellt noch den Hype um Martin Schulz in den Schatten. Droht den Grünen am Ende womöglich ein ähnliches Schicksal?

Dagegen spricht, dass der Boom ihren Führungsleuten auch nicht ganz geheuer ist. Man weiß um die eigenen Stärken, aber auch um die Schwächen. Und das verleiht schon mal Bodenhaftung. Ihr Bundesgeschäftsführer Michael Kellner hat es mit entwaffnender Offenheit auf den Punkt gebracht: Die Partei boxe gerade oberhalb der eigenen Gewichtsklasse. Wer den netten Altbau der grünen Parteizentrale in Berlins Mitte sieht, mag vielleicht auf den Gedanken kommen, dass hier eine liebenswürdige WG ihr Zuhause hat, aber keinesfalls ein straff organisierter Mega-Apparat, der demnächst die nationalen und internationalen Geschicke Deutschlands maßgeblich mitsteuern könnte.

Ein Kommentar von Stefan Vetter.

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Es ist aber nicht nur die Organisation der Grünen, welche den Anforderungen an eine Volkspartei schwerlich standhält. Die riesige Popularität lässt derzeit auch in den Hintergrund treten, dass man bis heute praktisch eine Ein-Themen-Partei geblieben ist. Umwelt- und Klimaschutz als Paradedisziplin. Da kennen sich die Grünen aus, da sind sie einsame Spitze. So dürften die anderen Parteien inzwischen genauer hinhören, wenn sich die Grünen, wie erst am Wochenende geschehen, für einen nationalen Klimafonds starkmachen.

Dünner wird es, wenn es um wirtschaftliche und soziale Begleiterscheinungen des Klimaschutzes geht. Nur ein Beispiel: Ein herkömmlicher Verbrennungsmotor besteht aus 1200 Teilen, ein Elektromotor aus lediglich etwa 200. Dadurch sind langfristig etwa 30 Prozent der Jobs in der Automobilbranche entbehrlich. Hier wüsste man schon gern, wie dieser Wandel sozial abgefedert werden soll. Ein weitgehend unbeackertes Feld für die Grünen ist bisher auch die Innen- und Sicherheitspolitik.

So kann die Partei eigentlich nur hoffen, dass die große Koalition noch eine Weile hält. Denn bei einem zeitnahen Bruch müssten die Grünen nicht nur einen Kanzlerkandidaten aus dem Hut zaubern, der sich ihrer Tradition einer Doppelspitze samt langwieriger Urwahl entzieht. Von der Partei würden auch jenseits der Klimafrage zügig politische Antworten erwartet. Noch ist da viel Luft nach oben.