WM Kroos, der unfassbare Sieg und die Sehnsucht nach Maß und Mitte im Fußball
Dem Fußball, diesem verrückten, martialischen, korrupten, geldverseuchten Spiel wäre zu wünschen, ab und an das Vorbild zu sein, das er gerne wäre. Ein Kommentar von Ekkehard Rüger.
Gut, auch noch mal an dieser Stelle: Mit seinem unfassbaren Freistoßtor, der allerletzten Chance in den allerletzten Sekunden, hat sich Toni Kroos auf alle Zeiten in das kollektive Fußballgedächtnis gefräst. Grandioser, tragischer, auch animalischer kann Fußball nicht sein. Vergleichbare Brüll-Eruptionen hat es vor deutschen Fernsehern seit Götzes Endspieltreffer vor vier Jahren nicht mehr gegeben. Solche Spielermomente sind so unendlich viel mehr als Glück: Sie sind Kristallisationspunkte großen fußballerischen Könnens. Punkt. Die weitere Analyse des Spiels mag den schätzungsweise 80 Millionen deutschen Bundestrainern vorbehalten bleiben.
Aber im adrenalingetränkten Anschluss gab es dann diese Interview-Äußerung des Last-Minute-Helden, in der sich all die mit Schnappatmung kurz vor dem Kreislaufkollaps stehenden Fans vor den Bildschirmen und Leinwänden so überhaupt nicht wiederfinden konnten. Kroos sprach von dem Gefühl, dass es „relativ viele Leute in Deutschland“ wohl gefreut hätte, wäre die Nationalelf bereits gegen Schweden ausgeschieden. Und relativ viele Leute in Deutschland dachten bei sich: „Mich kann er damit nicht gemeint haben.“ Was vor allem belegt, wie schwer es auch im Fußball ist, Maß und Mitte zu finden.
Man hat das in der Diskussion um Özil und Gündogan gesehen, in der relativ viele Leute offenen Rassismus mit berechtigter Kritik verwechselt haben. Man hat das im Spiel gegen Mexiko gesehen, in dem relativ viele Spieler und der Bundestrainer behäbige Arroganz mit Selbstbewusstsein verwechselt haben. Man hat das nach dem Sieg gegen Schweden gesehen, als relativ wenige deutsche Betreuer Chauvinismus mit Euphorie verwechselt haben. Und man hat das auch bei Toni Kroos gesehen, der eine DFB-typische Wagenburg-Verschwörungstheorie mit einer geschliffenen Replik auf einzelne Großmaul-Kritiker verwechselt hat.
Über das alles kann man eine Nacht schlafen und es dann bei Verstand neu bewerten. Oder man kann es weiter und weiter treiben, in sozialen und anderen Medien und in seinem Herzen, bis jedes Maß verloren geht. Weil das aber schon sonst in der Welt oft genug passiert, wäre dem Fußball, diesem verrückten, martialischen, korrupten, geldverseuchten Spiel zu wünschen, vielleicht dann doch ab und an das Vorbild zu sein, das er gerne wäre: mit Maß und Mitte.