Meinung Mehr Chancen statt Stütze
Wer die Dauerdebatte über die Essener Tafel verfolgt hat, der muss den Eindruck gewinnen, dass der Sozialstaat vor dem Kollaps steht. Von der Opposition hieß es sogar, dass in diesem Land gehungert werde.
Da scheint es folgerichtig zu sein, wenn führende Sozialverbände eine spürbare Anhebung der Grundsicherung fordern. Ist das Problem damit gelöst?
Natürlich können Sozialleistungen immer höher sein. Dieser Wunsch ist verständlich. Berücksichtigt werden muss dabei aber auch ein gewisses Lohnabstandsgebot. Eine deutliche Anhebung der Grundsicherung würde bedeuten, dass Beschäftigte mit geringen Einkommen kaum mehr zum Leben hätten, als jene, die Stütze beziehen. Ob das wirklich sozial gerecht wäre, mag jeder für sich selbst beantworten. Leistungsgerecht wäre es nicht. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wer kein Hartz IV bezieht, kann die Tafel auch nicht nutzen. Wer zu ihr geht, muss seine Bedürftigkeit nachweisen. Das können auch immer mehr Migranten. Für sie lohnen sich die praktisch kostenlosen Lebensmittel schon deshalb, weil dann mehr Geld übrig bleibt, um es an Verwandte in die Heimat zu schicken. Unter diesem Erwartungsdruck stehen wohl die meisten Flüchtlinge. Das lässt erahnen, dass die Tafeln selbst bei einer spürbaren Anhebung der Hartz-IV-Sätze weiter Kundschaft hätten.
Die Tafeln sind gleichwohl eine tägliche Mahnung für die Politik, die Hände nicht in den Schoß zu legen. Das bedeutet in der Praxis, zum Beispiel für weniger prekäre Jobs zu sorgen, indem die Tarifbindung gestärkt wird. Das bedeutet auch, die Notwendigkeit einer nachhaltigen Integration von Flüchtlingen nicht nur in Sonntagsreden zu thematisieren. Integrationskurse sind immer noch Mangelware, genauso wie dafür entsprechend qualifiziertes Personal. Um mehr Chancengerechtigkeit muss sich die künftige Bundesregierung viel stärker kümmern als bisher. Ansonsten wird der Zulauf zu den Tafeln kaum zurückgehen.