Neviges: „Anfangs war es mir peinlich“
Armut: 80 Nevigeser kommen einmal in der Woche zur Tafel ins Alte Rathaus – um günstig einzukaufen, aber auch um mit anderen ins Gespräch zu kommen.
Neviges. Donnerstagmittag am Alten Rathaus in Neviges: Vor dem Eingang hat sich hinter rotem Flatterband eine Schlange gebildet. "Alles wird teurer", sagt Gerhard Hix, einer der Wartenden, "das Geld reicht hinten und vorne nicht." Deshalb geht der 62-Jährige regelmäßig zur Tafel der Diakonie Niederberg: Für einen Euro gibt es Lebensmittel und für 50 Cent ein warmes Mittagessen. Jeder, der bedürftig ist und eine so genannte "TafelCard" hat, kann hier einkaufen.
Seit 14Jahren ist Gerhard Hix, gelernter Fleischer, arbeitslos, lebt von Hartz IV. "Man kriegt einfach keine Arbeit in meinem Job mehr", sagt Hix - und wirkt dabei nachdenklich, aber nicht resigniert. Als arm würde er sich nicht bezeichnen: "Das hat mit Geld nichts zu tun."
Zur Tafel geht Hix, weil es günstig ist, aber auch weil man sich beim gemeinsamen Mittagessen mit anderen Leuten austauschen kann. "Das ist besser, als zu Hause zu sitzen."
Es kostet allerdings Überwindung, sich in die Tafel-Schlange zu stellen. "Anfangs war es mir peinlich", sagt Magdalena Scharf (83), aber irgendwann sei ihr das egal gewesen. "Bei meiner kleinen Rente bleiben mir 300 Euro im Monat", sagt sie, da bleibe ihr nichts anderes übrig.
Auch eine Mutter von drei Kindern, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, berichtet von Hemmungen, sich als bedürftig zu erkennen zu geben - "hier in der Stadt kennt ja jeder jeden". Eine Freundin habe sie dann überredet.
Zum ersten Mal ist in dieser Woche ein 21-Jähriger, der ebenfalls anonym bleiben möchte, zur Tafel gekommen: Auch er habe zunächst ein komisches Gefühl gehabt, sagt der junge Arbeitslose, "aber ich bin ja nicht der Einzige, der hier hingeht." Etwa 80 Nevigeser sind es an diesem Donnerstag.
"Mir macht das nichts aus", sagt Gerhard Hix, aber in gewisser Weise würden die Leute schon vorgeführt, findet er. "Warum kann man nicht am Hintereingang warten, sondern genau an der Hauptstraße?"
Mitarbeiterinnen des Ordnungsdienstes S.O.S. (Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit) passen dort auf, dass niemand die Absperrung übertritt oder im Weg steht - "die führen sich schon ziemlich auf", ist von den Wartenden zu hören. "Die Schlange vor der Tür ist ungünstig", bestätigt Hans-Jörg Haase, ehrenamtlicher Helfer - momentan sei es aber auch nicht möglich, den Hintereingang zu nutzen.
Nach einer halben Stunde öffnet sich die Tür für die Wartenden: Jeder zieht eine Nummer, die dann aufgerufen wird. An den Ständen verteilen die Helfer Obst, Gemüse und Brötchen. Und im Saal gibt es ein Mittagessen - Graupensuppe und Nudelsalat.
"Das Mittagessen wird gut angenommen", berichtet Dagmar Czerny vom Diakonischen Werk. Mittlerweile gebe es schon feste Stammtische. Und für die Helfer ist es eine Möglichkeit, besser mit den Leuten ins Gespräch zu kommen.
Thema am Mittagstisch sind auch die Äußerungen eines Chemnitzer Professors, dass Hartz-IV-Empfänger auch mit 132 Euro im Monat auskommen könnten. Die Reaktionen sind eindeutig: Unverschämt, unmöglich, unrealistisch. "Wer so etwas behauptet", sagt Gerhard Hix, "der ist für mich wirklich arm."