Kempen Flüchtlinge lebten im Saal des Bürgermeisteramts

Artur und Ruth Spring aus Kempen erinnern sich an ihre Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg.

Foto: Kurt Lübke

Kempen. Die Erzählungen klingen aktueller denn je: Ruth und Artur Spring aus Kempen sind als Kinder mit ihren Familien aus Osteuropa an den Niederrhein geflohen. Die heute 79-jährige Ruth Spring kam zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Region Memeln. Ihren Mann, mit dem sie seit 1955 verheiratet ist, verschlug es 1950 nach fünf Jahren in polnischer Zwangsarbeit nach St. Hubert. Dort lernte der heute 81-Jährige seine Frau kennen.

Wenn die Springs über ihre Flucht berichten, geht es um Notunterkünfte, schier endlose Odysseen und Willkommenskultur. Themen, die unweigerlich an die aktuelle Flüchtlingswelle erinnern. „So herzlich wie die Leute kürzlich in München wurden wir nicht aufgenommen“, erinnert sich Ruth Spring: „Wir waren die ersten Flüchtlinge in St. Hubert.“ Problematisch sei es gewesen, als evangelische Familie im „erzkatholischen Ort“ Fuß zu fassen. Die Hilfsbereitschaft der Bauern, bei denen ihre Mutter gebettelt habe, sei gering gewesen.

Untergebracht war Ruth Spring gemeinsam mit fünf Familienmitgliedern zunächst in einem einzigen Zimmer, das eine St. Huberterin zur Verfügung gestellt hatte. Die Dame war während des Krieges für einige Tage bei Ruth Springs Familie in Memeln untergekommen. Dort besuchte sie ihren Mann im Lazarett. „Sie hat gesagt, wenn der Krieg vorbei ist, sollen wir sie besuchen.“

Während der Flucht aus dem Osten kurz vor Kriegsende entpuppte sich der Kontakt an den Niederrhein als Glücksfall. Zunächst wurde Ruth Spring mit ihrer Mutter, Geschwistern und einer Cousine auf einem Lkw in ein Flüchtlingslager nach Sachsen gebracht. Später kamen sie mit anderen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, in ein Auffanglager nach Österreich. Wegen des Kontakts zu der St. Huberterin konnte Ruth Spring mit ihrer Familie erneut per Lkw weiter ins Rheinland.

Nach dem Krieg stieß auch Ruths Vater zu seiner Familie. Der Schuhmacher, der hinter der Front die Stiefel der Wehrmacht reparierte, übte in St. Hubert später sein Handwerk im eigenen Laden aus.

Artur Spring musste schon im ersten Kriegsjahr seine Heimat verlassen. Über mehrere Generationen lebte seine Familie in Wolynien in der heutigen Ukraine, in dem deutsche Siedler seit vielen Jahrzehnten wohnten. Als Folge der Aufteilung Polens im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts wurde Wolynien ab September 1939 sowjetisches Staatsgebiet. Hitler veranlasste im Rahmen des Programms „Heim ins Reich“ eine Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung. Die Einwohner, auch Artur Spring, kamen 1939 nach Berlin. Von dort wiesen die Nazis den Familien enteignete polnische Bauernhöfe zu. „So wollte Hitler neue Soldaten gewinnen“, sagt Spring.

Nach dem Krieg kam er mit seiner Mutter und drei seiner elf Geschwister in polnische Zwangsarbeit. Der Vater war im Krieg gefallen, mehrere Brüder in Gefangenschaft und andere Geschwister aus Polen in den Westen geflohen. Artur Spring durfte nicht mehr zur Schule gehen. Er musste auf einem Gut in einer Gärtnerei arbeiten. „Die fünf Jahre waren hart.“

Nach einem langen Papierkrieg, den die Geschwister aus dem Westen mit den Behörden im Ostblock führten, durfte Artur Spring mit seiner Familie endlich in die Bundesrepublik. Meist ging es mit dem Lkw von Aufnahmelager zu Aufnahmelager bis zur Ankunft in Kempen. Dort bekamen Artur Springs Familie und die anderen Flüchtlinge Essen im heutigen Burgcafé. Dann ging es für einige Tage in eine Sporthalle in Grefrath. „Dort hatten sie keinen Platz“, sagt Spring. Also wurden er und seine Familie nach St. Hubert gebracht. Im Kendeldorf lebten sie zunächst mit mehreren Familien im Saal des Bürgermeisteramts.

Trotz der widrigen Umstände trafen sich alle in Deutschland lebenden Geschwister in St. Hubert wieder. Einfach war die Integration nicht. „Mit 16 Jahren bin ich hier in die vierte Klasse gekommen und habe in zwei Jahren vier Klassen gemacht, damit ich einen Schulabschluss bekomme“, sagt Artur Spring. Einige Mitschüler hätten ihn als „Pollack“ beschimpft, bis der Direktor eingegriffen habe. Durch harte Arbeit baute sich Artur Spring eine Existenz am Niederrhein aus. „Die Sehnsucht, nach Wolynien zurückzukehren, war nie da.“