Gedenken in Nettetal Als eine Rakete in Lobberich einschlug
Nettetal-Lobberich · Am 19. Februar 1945 explodierte ein deutscher V1-Marschflugkörper im Zentrum von Lobberich. Mindestens 35 Tote und an die 100 Verletzten waren zu beklagen. An das Ereignis vor 80 Jahren erinnerte nun eine Mahnwache in der Alten Kirche – mit einer besonderen Aktion.
Genau vor 80 Jahren, am 19. Februar 1945, exakt um 12.33 Uhr schlug ein fehlgeleiteter deutscher V1-Marschflugkörper in Lobberich in das Hotel Köster an der Hochstraße in Lobberich – gegenüber dem Park Ingenhoven – ein. Die Zahl der Opfer konnte nie genau geklärt werden, weil nicht bekannt war, wie viele Soldaten des Volkssturms im Hotel anwesend waren. In der Alten Kirche waren 35 Tote aufgebahrt, einige Quellen sprechen von 45 Toten. An die hundert Menschen wurden verletzt. Am Mittwoch wurde in der Alten Kirche der Opfer dieser Explosion gedacht. Mit einer besonderen Aktion.
Ab 12.33 Uhr, dem genauen Zeitpunkt des Einschlages, läuteten 60 Nettetaler Bürger je eine Minute lang die Glocke „de Klemp“ als Mahnung für Frieden und Demokratie. Am Seil im Vorraum zogen unter anderem Schützenkönig Michael Voß, Pfarrer Benedikt Schnitzler, Mitglieder der Malteser-Jugend, Ratsfrau Helma Josten (CDU) und Norbert Schneider (SPD). Bürgermeister Christian Küsters (Grüne) appellierte in einer Videobotschaft, sich für Frieden, Demokratie, Freiheit und Toleranz einzusetzen. Der Lobbericher Marcus Optendrenk (CDU), heute Finanzminister des Landes NRW, bezeichnete die Alte Kirche als ein Symbol für Verletzlichkeit und Verletzungen. Der Schrecken, der vor 80 Jahren in Lobberich greifbar geworden war, sei heute wieder, 1500 Kilometer entfernt, in der Ukraine erlebbar.
Bastian Rütten und Dietmar Sagel vom Arbeitskreis Alte Kirche sehen die Gedenkstunde auch im Zusammenhang mit der anstehenden Bundestagswahl. Das Projekt der Alten Kirche wolle immer auch erinnern und mahnen: „Entscheidend für unsere Gesellschaft wird die Freiheit sein.“
Besonders eindringlich waren die Erlebnisberichte von zwei Zeitzeugen im Video: Theo Optendrenk berichtete, wie er mit fünf Jahren die zischende V1 am Himmel über der Süchtelner Straße gesehen habe: „Ein gespenstischer Eindruck.“ Seine Mutter war dem Inferno knapp entgangen, weil sie erst auf die Heimkehr der Kinder warten wollte. Helene („Leni“) Fierloy war als Kind ins Sauerland evakuiert. Aber ihr Vater, der bei den Stadtwerken arbeitete, besuchte regelmäßig das Hotel Köster, weil dort eine Gulaschkanone die Soldaten versorgte. Am 19. Februar 1945 hatte ihn seine Schwester zum Kaninchenbraten eingeladen. Tragisch dagegen war, dass der 13-jährige Sohn der Schwester vor dem Essen noch ins Zentrum ging, um ein Schulheft zu besorgen. Dabei traf er eine Klassenkameradin. Sie standen am Tor des Ingenhoven-Parks, als die Rakete einschlug. Beide Kinder überlebten nicht. Die Sprengladung von mehr als 800 Kilogramm zerstörte an der Hochstraße das Hotel Köster und zwei Nachbarhäuser. Auch bei den Überlebenden hinterließ der Absturz der V1 tiefe Wunden. Der Vorfall war über Wochen und Monate das Thema in Lobberich.
Der Absturz der V1 und die Umstände des fehlgeleiteten Fluges wurden von offiziellen Stellen dagegen geheim gehalten. Eine Bombe der Alliierten war damals die offizielle Erklärung. Knapp zwei Wochen später war der Krieg in Lobberich zu Ende. Von Dyck her zogen amerikanische Truppen am 2. März durch Lobberich. Von ihrer Artillerie wurden der Turm und das Haus der Alten Kirche getroffen und beschädigt.
V1 ist ein NS-Propagandabegriff. Das V steht für Vergeltungswaffe. Als Wunderwaffe angekündigt, sollte sie die Wende im Kriegsverlauf bringen. Der Entwickler Gerhard-Fieseler-Werke in Kassel nannte das Ferngeschoss in Flugzeugform mit Strahltriebwerk und automatischer Steuerung einfach Fi 103. Dabei handelte es sich um den ersten Marschflugkörper, heute Cruise Missile genannt. Die erste V1 wurde am 13. Juni 1944 von Nordfrankreich in Richtung London abgeschossen. Bis zum März 1945 wurden 12.000 dieser neuen Waffen eingesetzt. Sie brauchten entweder eine Startrampe oder ein Flugzeug.
Mit Flugzeugen flogen sie auch vom Flughafen Venlo mit Ziel Antwerpen oder London. Das 7,7 Meter lange und 2,2 Tonnen schwere Ferngeschoss hatte einen Sprengkopf mit über 800 Kilogramm Sprengstoff. Die Reichweite lag bei 250 bis 280 Kilometern. Drei Viertel aller abgefeuerten V1 versagten oder wurden abgeschossen. Mehr als 2400 von ihnen erreichten ihr Ziel und töteten rund 5000 Menschen.