Sprayer zwischen Kunst, Kommerz und Kriminalität

Sprühdosen hinterlassen immer deutlichere Spuren in der Stadt – legale und illegale. Was sind die Motive der Szene?

<strong>Willich. Wie aus dem Nichts schießen plötzlich zwei Polizeiwagen heran. Einer von links, einer von rechts. Mit quietschenden Reifen bremsen sie ab und nehmen die Bushaltestelle am St. Bernhard Gymnasium in die Zange. Zwei Graffiti-Sprayer machen sich gerade an ihrer Rückseite zu schaffen. "Sofort stehenbleiben", schallt es aus dem Lautsprecher des Streifenwagens. Doch Holger Lamers und Marco Pietzka haben gar nicht vor abzuhauen. Holger angelt in aller Ruhe einen zerfledderten Wisch aus der Hosentasche und ruft: "Wir haben eine Genehmigung. Die Bushaltestelle ist eine freie Fläche."

Der 24-Jährige grinst, als er die Geschichte erzählt. Er sitzt im Jugendcafé Rampenlicht am Anrather Bahnhof, rückt sich seine Kappe etwas tiefer in die Stirn und wird wieder ernst. Denn auf der anderen Seite ärgere es ihn, dass oftmals gleich die Polizei gerufen werde, sobald Graffiti-Sprayer öffentlich in Aktion träten. "Wir malen ausschließlich legal", sagt der Anrather.

Auch der Willicher Graffiti-Sprayer Martin (Name von der Redaktion geändert), der mit in der Runde sitzt, ärgert sich über Schmierereien - aber nicht darüber, dass sie illegal sind. Er selbst malt fast nur illegal.

Der 26-Jährige hat mit 15 angefangen. "Ich habe jahrelang nur für mich auf Papier gezeichnet. Es hat lang gedauert bis ich das gut genug fand, um nach draußen zu gehen." Ein Vorteil: Gute Bilder haben bessere Chancen, nicht übermalt ("gecrosst") zu werden.

Entscheidend ist, wie flüssig die Umrandungen ("Outlines") der Buchstaben gelingen, wie kunstvoll die Buchstaben geformt sind und wie sie zueinander passen. "Eine andere Art der Typografie", sagt Martin. Und bis heute sei er fasziniert, was aus so einer Dose herauszuholen sei.

Doch das ist nicht Martins einzige Motivation. "Wir werden in unserer Gesellschaft permanent und ungefragt mit Werbebotschaften aller Art zugemüllt und berieselt. Graffiti ist der Versuch, den urbanen Raum zurückzuerobern. Mit für die meisten zwar unlesbaren Zeichen, die irritieren, aber auch wachrütteln können und auf Einzelne aufmerksam machen, die sonst oft in der Anonymität verschwinden."

Martin sprüht vor allem an Autobahnen. An Brücken, Schildern oder Stromkästen. Immer nachts. Immer Buchstaben. Bilder sind für ihn höchstens Verzierung. "Buchstaben sind die Wurzel von Graffiti."

Erwischt worden ist er noch nie. "Auf Autobahnen müsste man sich schon dumm anstellen." Hin und wieder hupe höchstens ein Lkw-Fahrer. Sein bestes Bild sei aber am Viersener Bahnhof entstanden. Zu dritt haben sie dort die komplette Seite eines Personenwaggons bis unter die Scheiben bemalt ("end to end").

"Mir ist wichtig präsent zu sein und von vielen gesehen zu werden", sagt er. Deshalb sei er so gut wie nie in Willich unterwegs. Zumal er es "asozial" finde, wenn er sieht, dass dort Schriftzüge auf normale Häuserwände "gebombt" würden. Um Privatbesitz dieser Art macht Martin einen Bogen. Pkw, historische Gebäude, Grabsteine seien ebenfalls tabu. Ein Ehrenkodex, dem jedoch nicht alle folgen würden.

Beginn: Die Verbreitung individueller Schriftzüge ("Tags") beginnt 1971 in New York. Ein Botenjunge hinterlässt sein Pseudonym "TAKI 183" an zahlreichen Stellen der Stadt und findet nach einem Zeitungsartikel über sein Tun viele Nachahmer. Graffiti wurde zum Bestandteil der Hip-Hop-Kultur.

Kosten: Die Entfernung unerlaubter Graffiti an Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln kostet laut Zentralverband der Deutschen Haus- und Grundeigentümer pro Jahr bis zu 250 Millionen Euro.

Pro: Der Graffiti-Forscher Norbert Siegl aus Wien sieht Graffiti als "älteste mediengebundene Kommunikationsform" (Beispiel Höhlenmalerei) als kulturelle Konstante und "basisdemokratische Ausdrucksform" jener Menschen, denen keine anderen Medien zur Verfügung stehen. Zensur lehnt er ab.

Kontra: Der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann sieht in Graffiti "brutale Besatzungsmaßnahmen" und "optisches Geschrei unerzogener Kinder" motiviert durch Exhibitionismus und "infantilem Trotz gegen die Gesellschaft".