100 000 Narren beim Sonnen-Zug
Fantasievolle Fußtruppen und imposante Wagen in der Innenstadt.
Neuss. Der Sonnenschein verlockt. nackte Beine, nackte Brust, pechschwarze Perücke. So eilt einer der vielen tausend Jecke über den Markt. Schnell noch irgendwohin, kurz bevor der Zog kommt. Verkleidet als was? Nicht mehr zu ergründen. Die meisten anderen Narren haben mehr Zeit. 100 000 Zugfreunde, so schätzt es die Polizei am Abend, haben sich bei diesem traumhaften Wetter am Zugweg versammelt.
Die Kinder freuen sich. Prinzessinnen, Cowboys, alle Klassiker sind vertreten, dazu Eisbären, Löwen, Hexen. Ein kleiner Pirat schießt mit der MP um sich, warum hat er keinen Vorderlader? Oder ein Gummi-Entermesser?
Fast alle Nachwuchsjecken sind mit Beuteln größeren Formats ausgerüstet, auch der Kinderwagen an sich ist eine gute Kamelle-Sammelstelle. Kappessonntagszug: Höhepunkt der tollen Tage. Und dann endlich geht es los. Der Zugleiter mit seinem Wagen, Fanfarencorps Grimlinghausen, die Rode Husare — und Pause. Es dauert. Keine Musik, keine Fußtruppen, kein Wagen. „Ist denn schon Schluss?“, fragt ein kleiner Cowboy, den Tränen nahe.
Nein. Ein wenig Geduld, erklärt auch Papa Pater seinem Känguru-Kind. Es kommen noch viele. Und eine so große Lücke wird es auch nicht mehr geben. 29 Wagen und 32 Fußgruppen, reichlich Bagagewagen ziehen am Narrenspalier vorbei.
„Die schmeißen aber wenig“, erklärt eine Hofdame kritisch ihrer Mutter. Stimmt nicht. Es regnet Popcorn, Kamelle, rosafarbene Baises, Schokolade und Urzeitkrebse zum Selberzüchten in Tütchen — kein Scherz.
„Helau“ schallt es vom Straßenrand vor allem den großen Wagen entgegen, so den gut gelaunten Heimatfreunden, deren Wagen vom letzten in Neuss gebauten Case-Trecker gezogen wird. Oder dem Piratenschiff der Quirinus-Jecken, das mächtig Dampf ablässt. Sehr hoch, sehr blau und in großer Stärke kommen die Blauen Funken daher. Auf einem Wagen wird ein Nikolaus gesichtet. Die Hippelänger Jecke zeigen sich in Sombreros und überraschen mit dem Spruch „Finger im Po - Mexiko“. Die Närrische Pudelbande überzeugt mit einem Wagen zum Thema „Hundewiese“.
Die vielen Fußtruppen stehen den Wagen in nichts nach. Fantasievoll kostümiert, ob klassisch im Lumpenlook wie die Kappeslompe, die Sahnebällchen mit ihren Bauch-Schiffen (Foto links) oder die Froschgruppe (Mer künne nix, mer bütze fix). Auch die Musikgruppen spielen mit Schwung auf und werfen Beutelgut.
Zwei Chinesenkinder sind ein wenig überrascht, auf jeden Fall aber begeistert. „Hello“, rufen sie und strecken die Arme, Helau ist ihnen wohl noch fremd. „Hello“ — und schon gibt’s Popcorn vom Tanzmädchen. Zu den Schönsten am Straßenrand zählt die kleine Prinzessin mit den großen schwarzen Augen. Lilia ist sechs Jahre alt, hat reichlich gefangen und sieht ein wenig traurig aus, weil jetzt alles vorbei ist.
Für viele andere ist nur ein Abschnitt zu Ende. „In die Wunderbar“, schallt es quer über den Büchel. Andere verabreden sich gerade für das Zeughaus. Und so weiter. Auf dem Rückweg ist der kleine Chinese. Er winkt immer noch selbstvergessen vor sich hin, zu einem unsichtbaren blauen Funken vielleicht, und ruft: „Hello, hello, hello“.