„Neuss steht auf gegen Rechtsextremismus“ Neuss feiert seine Vielfalt – Tausende Demo-Teilnehmer
Neuss · Tausende Menschen setzten am Sonntagnachmittag in Neuss ein deutliches Zeichen für eine bunte Stadtgesellschaft – und gegen Rechtsextremismus. Es wurde eine der größten Kundgebungen der jüngeren Stadtgeschichte.
Als Jascha Huschauer acht Minuten vor dem eigentlichen Beginn an das Mikrofon tritt, schwingt auch ein Hauch von Sorge mit. „Es ist ein großartiger Anblick, aber langsam wird es ein bisschen zu voll“, so der SPD-Geschäftsführer und Versammlungsleiter auf der Bühne des Münsterplatzes, der sogleich für zusätzliche Platz-Kapazitäten auf dem benachbarten Freithof warb. Was im Vorfeld bereits vermutet wurde, ist am Sonntagnachmittag Realität geworden: Tausende Menschen – die Schätzungen schwanken zwischen 4000 und 6000 – strömten in die Innenstadt, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Gegen Rechtsextremismus, gegen Ausgrenzung jeglicher Form – und für ein vielfältiges und buntes Neuss. Zu der Kundgebung hatte zuvor ein überparteiliches Bündnis aufgerufen.
Von „Stolz“ sprach Bürgermeister Reiner Breuer in Anbetracht der Menschenmassen rund um das Quirinusmünster. Und stellte unter lautem Beifall fest: „Neuss ist bereit, unsere Demokratie zu verteidigen. Neuss steht auf gegen Rechtsextremismus.“ Die Folgen des Versagens der Demokratie in Deutschland seien aus der Geschichte bekannt: Abschaffung von Grundrechten und Rechtsstaat führten zunächst zu Diskriminierung und Entrechtung von Minderheiten – und gipfelten später in den Schrecken des Holocaustes. Aus dieser Vergangenheit heraus gelte es als Demokratinnen und Demokraten gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Breuer: „Wir diskriminieren niemanden wegen seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner Überzeugung. Nicht wegen seines Geschlechtes und nicht wegen seiner sexuellen Orientierung. Wir sind vielfältig, tolerant und mitmenschlich.“ Darum sei es nicht zuzulassen, dass „Menschen verschiedener Herkunft als Nachbarn, als Kolleginnen und Kolleginnen, als Freundinnen und Freunde Angst haben müssen, vertrieben zu werden“.
Damit ging Breuer auf den Auslöser der aktuell bundesweit stattfindenden Proteste gegen Rechtsextremismus ein: Enthüllungen des Recherchenetzwerks Correctiv über ein Treffen radikaler Rechter am 25. November 2023, an dem einige AfD-Politiker, finanzstarke Unternehmer sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion in Potsdam teilgenommen hatten. Ihr Ziel: Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland auszuweisen.
Immer wieder wurden die Reden unterbrochen von lautem Beifall
Berichte, die auch Bert Römgens, Direktor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf-Neuss, ins Mark trafen. In Anbetracht offen grassierenden Antisemitismus und Rassismus stellte er fest: „Aus meiner Sicht hat die Gesellschaft viel zu lange geschwiegen. Darum ist es gut, dass ihr alle da sein“, so Römgens, der auch auf ein bedeutsames Datum einging, das nur kurz zurückliegt: Der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und als Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: „Ein Menschenleben lang trennt uns von dem schwärzesten und brutalsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem sechs Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.“
Die AfD werde in manchen Bundesländern aus seiner Sicht zu Recht als rechtsextrem eingestuft, seine Ansicht unterstrich Römgens mit Zitaten von AfDlern wie: „Dem Flüchtling ist egal, an welcher Grenze er stirbt“ oder „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.
Immer wieder wurden die Reden – auch Landrat Hans-Jürgen Petrauschke und die Kaarster Integrationsmentorin Bouchra el Mazi gaben zum Teil sehr persönliche Einblicke – unterbrochen von lautem Beifall. Viele Teilnehmer kamen mit zum Teil liebevoll gestalteten und humorvollen Transparenten, um ihre Botschaft zu vermitteln. „Love Grundgesetz, hate Nazis“ oder „Omas gegen Rechts“ war unter anderem zu lesen. Manch einer wählte lieber Song-Texte aus. „Faschisten hören niemals auf Faschisten zu sein. Man diskutiert mit ihnen nicht – hat die Geschichte gezeigt“ wurde zum Beispiel der Rapper Danger Dan zitiert. Auch eine schriftliche Hommage an „Schrei nach Liebe“ (Die Ärzte) war zu entdecken.
Dass man nicht früh genug anfangen kann, menschliche Werte zu vermitteln, bewies Yvonne Tuchel, die mit ihren beiden kleinen Töchtern Maya und Anni zur Demo kam. „Es ist wichtig, auf die Straße zu gehen und zu zeigen, dass wir mehr sind“, sagte sie. Auf einem ihrer Schilder in Regenbogenfarben war „Unser Deutschland ist bunt“ zu lesen. Für den Spruch „Ich stricke nur rechts“ entschied sich wiederum Gaby Kohler aus Korschenbroich. „Es ist Zeit aufzustehen. Jeder Einzelne zählt – viele kleine Gruppen ergeben ein Ganzes“, sagte sie. Was ihre Begleitung Ulrike Sonderland Angst macht: Rassistische Äußerungen scheinen immer salonfähiger zu werden, finden ihren Weg verstärkt in die Mitte der Gesellschaft. Von Furcht sprach auch Michael Schnabel, der mit einer großen „Kein Bock auf Nazis“-Fahne aus Grevenbroich angereist war. In Anbetracht der immer weiter erstarkenden AfD im Osten „kann einem angst und bange werden“, sagt er. Als Mitorganisator stark vertreten war auch die St.-Augustinus-Gruppe. „Es ist uns ein großes Anliegen, in diesen Tagen ein klares Zeichen zu setzen“, so Geschäftsführer Andreas Degelmann.
Musikalisch untermal wurde die Kundgebung von Clara Krum. Und die Rock-Förderpreisträgerein des Jahres 2022 der Stadt setzte den Schlusspunkt mit einem echten Gänsehautmoment: Als zum Schein der tief stehenden Winter-Sonne „Image“ von John Lennon durch die Innenstadt hallte.