Parteivorsitz Roadshow der SPD-Erneuerung gastiert jetzt in Nordrhein-Westfalen

Kamen · Die sieben Kandidatenteams für den Parteivorsitz stellen sich in Kamen mehr als 1000 Mitgliedern. Klarer Gewinner des Tages: ein 13-Jähriger, der für den einzigen echten Gänsehautmoment sorgte.

Klara Geywitz (SPD,l) und Olaf Scholz (SPD), Bundesfinanzminister, sprechen zu den Parteimitgliedern bei der SPD-Regionalkonferenz zur Vorstellung der Kandidaten für den Parteivorsitz.

Foto: dpa/Guido Kirchner

Auf Bildschirmen wird Werbung für die große Schlagerpartytour mit Olaf Henning, der 1999 „Die Manege ist leer“ sang, gemacht. An der Theke gibt es „Bluna“-Limo – wissen Sie noch, Mitte der 90er: Sind wir nicht alle ein bisschen „Bluna“? Das ist die Kulisse für die Suche nach der Zukunft der Sozialdemokratie. Mit nunmehr 17 Regionalkonferenzen in den Knochen machten die sieben Kandidatenduos, die sich für den Bundesvorsitz der SPD bewerben, am Samstag ihre erste Station in NRW. Vor mehr als 1000 Genossinnen und Genossen in der somit rappel vollen Kamener Stadthalle.

Es sei „eine Tour der Persönlichkeiten“, aber noch mehr „eine Tour der Ideen“ verspricht der Moderator am Vormittag. Vor allem ist es eine Show der Anti-Groko-Spitzen, der maßvollen Selbstgeißelung. Und: eines Widerstreits von linkem Idealismus und Bundespolitik-Realos. Manege frei – um bei Olaf Henning zu bleiben.

Das Kandidaten-Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

Foto: dpa/Hauke-Christian Dittrich

Bis die große Koalition in Berlin den ersten kräftigen Hieb aus Kamen bekommt, dauert es keine zehn Minuten. „Mit der Groko baut man keine gerechte Zukunft“, ruft Saskia Esken und erntet damit auch gleich den ersten Schwall Szenenapplaus. Ihren Partner Norbert Walter-Borjans, den sie ausnahmslos mit „Nowabo“ anredet, stellt sie publikumswirksam so vor, wie ihn eben alle kennen: Als den Mann, der einst die Steuer-CDs kaufte und so mehr als sieben Milliarden Euro eintrieb. Von den Reichen, die sich aus der sozialen Verantwortung stehlen wollten. „Er sollte auch an der Spitze der SPD stehen“, fordert Esken und „Nowabo“ nutzt sein Heimspiel mit den Worten: „Ihr glaubt gar nicht, wie stark das ist, nach 17 Regionalkonferenzen das erste Mal zu Hause zu sein!“ Um dann gegen die schwarze Null – sie bekommt an diesem Samstag fast noch mehr ab als die Groko insgesamt – zu wettern und mehr Umverteilung zu fordern.

Und weil es eben doch ein Wettbewerb ist, besteht Christina Kampmann als zweite NRW-Heimspielerin sogleich darauf, dass es das Team Kampmann-Roth war, das das Ende der schwarzen Null als allererstes gefordert hatte. Zudem will sie die Kindergrundsicherung und das Ende von Hartz IV. „Wenn ihr uns wählen solltet, traut ihr euch wirklich was“, versucht es ihr Partner Michael Roth auf der persönlicheren Ebene – die beiden sind das jüngste Team und „gekommen, um zu bleiben“, wie er verspricht. Mit ihnen sei „echter Aufbruch“ zu schaffen.

In der Tat ist Jugend das, was die „Neuen“ für die Spitze der Sozialdemokratie sonst am wenigsten mitbringen. Die Wahl der Genossen liegt vor allem darin, wie weit links und wie krachend sie es denn gern hätten. Da ist viel Raum zwischen Olaf Scholz mit Partnerin Klara Geywitz, der gemäßigt bekannt gibt: „Mit uns geht es immer um Solidarität“, und Hilde Mattheis mit Dierk Hirschel, die ruft: „Wir brauchen sozialdemokratische Politik für die vielen, nicht für die wenigen, die jeden Tag die Champagnerkorken knallen lassen – nicht für die Unternehmensberater und Wirtschaftsbosse“.

Eine Entschuldung der Kommunen, einen Mindestlohn von zwölf Euro und gebührenfreie Bildung als basislinkes Wohlfühlpaket gibt es auch mit Olaf Scholz, Mattheis und Hirschel legen aber die sofortige Beerdigung von Hartz IV und schwarzer Null obendrauf, Gesine Schwan und Ralf Stegner dazu noch Vermögens- und höhere Einkommenssteuer – Stegner ist zumindest beim Schnellsprechen klarer Gewinner des Tages und sagt einen der schönsten Sätze mit: „Unser Problem in Deutschland ist nicht die Vielfalt, sondern Einfalt.“ Insbesondere wird die Wahl der 400 000 SPD-Mitglieder natürlich eine Entscheidung über die Zukunft der Koalition in Berlin sein. Und daraus macht etwa Karl Lauterbach auch keinen Hehl, wenn er bittet: „Wählt die große Koalition mit uns ab!“ Schwer, das wird in Kamen überdeutlich, wird bei der Abstimmung über den Parteivorsitz nicht nur die Groko haben, sondern naturgemäß auch jeder, der ihr angehört. Unverhohlen in Richtung Scholz erklärt Gesine Schwan: „Wir sollten nicht geführt werden von Menschen, die im Kabinett sind.“ Die Kompromissansprüche des Regierens und die Notwendigkeit grundlegender Richtungsentscheidungen im Parteivorsitz schlössen sich aus – und der verhaltene Beifall für Scholz’ Ausgewogenheit scheint ihr da Recht zu geben.

Karl Lauterbach (SPD,r) und Nina Scheer (SPD) sprechen zu den Parteimitgliedern bei der SPD-Regionalkonferenz zur Vorstellung der Kandidaten für den Parteivorsitz.

Foto: dpa/Guido Kirchner

Der Tenor in Kamen nach gefühltem Applausometer ist klar: Industrie yeah, Gewerkschaften yeah, Klimaschutz yeah - Reiche buh, Arbeitgeber buh. Und die Regionalkonferenz an sich? Josephin Tischner aus Dortmund findet das Format gut, hatte vorher schon eine Wahltendenz und jetzt entschieden: „Ich wähle Hilde und Dirk, die waren deutlich am politischsten“, sagt die 33-Jährige. Gerechtigkeit und Umverteilung seien die Fragen der Zeit, Scholz stehe „für die schwarze Null und ein Weiter so“. Manfred Linde (73) kann sich zwischen Lauterbach-Scheer und Nowabo-Esken noch nicht entscheiden: „Wer kommt glaubwürdiger rüber – das weiß ich für mich noch nicht.“ Für Herbert Tilch aus Fröndenberg hat der Termin in Kamen bestätigt, was er eh für sich schon wusste: Er wird Walter-Borjans wählen. „Er hat eine gute Arbeit damals gemacht“, sagt der 76-Jährige und findet die Roadshow der Kandidaten notwendigerweise super, denn: „Es ist immer gut, wenn man selbst bestätigt wird.“ Jonas Reitz von den NRW-Jusos sieht die Veranstaltung da deutlich kritischer: „Es ist ein Standardprogramm, das die abspulen.“ Da könne man leicht links blinken und später doch rechts abbiegen. Dass die Frage der Linksausrichtung entscheidend sein wird, daran lassen die Jungsozialisten zumindest keinen Zweifel.

Petra Köpping und Boris Pistorius.

Foto: dpa/Guido Kirchner

Einen klaren Gewinner unter den Kandidaten gibt es in Kamen beim NRW-Auftakt nicht. Nach Gelächter und Applaus ist der Sieger des Tages der 13-jährige Jonas, der sich in der Fragerunde meldet und bekannt gibt: „Ich möchte nächstes Jahr in die SPD eintreten, wenn ich 14 werde.“ Er will vom Gespann Kampmann-Roth wissen, wie die Jugend, die ja nur noch grün wählen wolle, wieder für die Sozialdemokraten zu begeistern sei. Roth antwortet, er könne es kaum erwarten, bis Jonas eintrete. Kein Wunder, bei dieser zurzeit selten gekannten Verve für die SPD.

Der wahrste Satz kam wahrscheinlich von Landesvorsitzenden der Partei, Sebastian Hartmann, der eingangs seine Genossen angesichts des bevorstehenden Prozesses warnte: „Wir können das zusammen hinkriegen – oder wir setzen es zusammen in den Teich.“ Wer auch immer gewählt werde, brauche – egal mit welchem Stimmenanteil – 100 Prozent Unterstützung aller. Und eng, das ist in Kamen klar, als die Manege am frühen Samstagnachmittag leer ist, könnte es durchaus werden bei den gebotenen Nuancen von Links.