Azoren: Alle Jahreszeiten an einem Tag
Ein fast noch unbekannter Fleck auf der Landkarte hat touristisch viel zu bieten – aber keinen reinen Bade-Urlaub.
Düsseldorf. Der Holzkasten ist kleiner als eine Hundehütte, doch ohne ihn wäre Wetterfrosch Jörg Kachelmann arbeitslos. Der Thermograph mit allerlei altmodischen Messgeräten steht unter einer dicken Silberlinde im Garten einer Wetterstation auf den Azoren.
Es ist eine von tausenden weltweit - aber die einzige mitten im Ozean. "Wie das Wetter übermorgen in Europa wird, das wissen wir schon heute hier", sagt Meteorologe Diamantino Henriquez. Und wie wird das Wetter? "Wechselhaft."
Für die Azoren wäre das nichts Neues. "Jeder Tag hat vier Jahreszeiten", sagen die Leute hier. Sonne, Nebelschwaden, Regenschauer - all’ das kann in nur einer Stunde passieren. Nichts hat die Inselgruppe zwischen Europa und Amerika bekannter gemacht als das nach ihr benannte Azoren-Hoch, ein quasi permanentes Hochdrucksystem, wenn die Atlantikwinde zum ersten Mal auf warme Landmasse stoßen.
Die neun Vulkan-Inseln im Atlantik, zusammen nicht größer als Luxembourg, werden gerade für den großen Tourismus entdeckt - noch sind sie ein relativ unbekanntes Naturparadies. Wer weiß schon, wie es auf den Azoren aussieht? Weiße Traumstrände, kristallklare Buchten? Karge Felsen, eisige nordatlantische Winde? Beide Vorstellungen sind falsch.
Stattdessen gibt es so manche Überraschung: üppige grüne Landschaften, muntere Städtchen, köstliche Weine, top-moderne Architektur wie das unterirdische Kratermuseum in Capelinhos, trendige Design-Hotels in alten Forts, segelnde Transatlantik-Abenteurer. 250 000 Einwohner, 70 000 Kühe. Und hausgemachter Käse, den man mit "marmelada" vor dem eigentlichen Essen genießt - das sind die Azoren.
Mal sieht die Landschaft wie in Cornwall aus, mal die Städtchen wie Havanna. Mit ihren schroffen Steilküsten liegen die Inseln - aus Vulkaneruptionen vor vier Millio- nen Jah- ren entstanden - wie Zufallstupfer zwischen Europa und Amerika im Atlantik, etwa 1500 Kilometer von Lissabon und 1900 Kilometer von Neufundland entfernt. Damit sind sie der westlichste Punkt Europas, der letzte, an dem man mit Euro bezahlen kann.
Bei der Ankunft merken die Urlauber erst einmal erfreut, dass es wärmer ist als erwartet. Der Golfstrom sorgt für ganzjährig feuchtes, aber mildes Klima zwischen 17 und 27 Grad.
Schwierig auszusprechen und noch schwieriger zu merken sind die portugiesischen Orts- und Inselnamen, die auf die Entdeckung durch portugiesische Seefahrer 1427 zurück zu führen sind.
"Von jetzt an achten Sie auf die Fontäne!", ruft Captain Manuel. In Schlauchbooten und Katamaranen gehen Urlauber auf Waljagd - nur mit der Kamera natürlich und im tierfreundlichen Abstand von 50 Metern. Kommerzieller Walfang, für zwei Jahrhunderte rege betrieben, ist seit 1987 verboten. Doch die Logistik steht noch, ein gut gemachtes Walmuseum auf der Insel Pico berichtet davon.
Der Captain dreht auf, das Schiff rollt in harten Bewegungen über hohe Wellenkämme. Und endlich: die erwartete Fontäne, das Signal eines Spermwals. Der riesige Koloss taucht auf und wieder unter. Eine quiekende Gruppe von Delphinen gesellt sich dazu. "15 000 Wale soll es hier geben", erklärt der Captain. Sonnenstrahlen glitzern auf dem Spielplatz der Meerestiere, als das Boot zurückfährt.
Jede Azoren-Insel hat ihr eigenes Gesicht: Die Hauptinsel Sao Miguel, etwa so groß wie Hamburg, bietet einzigartige Vulkanseen und die Hauptstadt Ponta Delgada mit 60 000 Einwohnern: Hier tragen weiße Häuser schwarze Ränder, die Bürgersteige schwarz-weiße Mosaike.
Eine neue Uferpromenade mit modernen Hotels, Clubs und Live-Jazz etwa in Tanda’s-Bar beweist, dass die Azoren nicht nur für Wanderer geschaffen sind. Auf der Segler-Insel Faial treffen sich Transatlantik-Überquerer. Auf der Erdbeben-Insel Terceira wurde mit EU-Geldern eine 1980 zerstörte Kleinstadt komplett wieder aufgebaut und zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt.
Backpacker lieben die Insel Pico, wo tolle Weine auf Lava angebaut werden und sich mit 2351 Metern der höchste Berg Portugals erhebt.
Um möglichst viel zu sehen, ist für Urlauber Insel-Hopping per Fähre oder Flieger angesagt. Das dauert meist nicht länger als eine halbe Stunde von Insel zu Insel, die sich über ein Gebiet von rund 640 Kilometern Luftlinie erstrecken.
Ein bunter Stilmix von Seefaher-Architektur prägt die Städtchen der Inselwelt: im Mittelalter losgefahren, in der Renaissance angekommen. Trippelt man über das Kopfsteinpflaster von Angra de Heroismo, der Erdbeben-Stadt, locken Boutiquen in gelb, rosa und hellblau gestrichenen Häusern, perfekte Nachbauten der Originale.
Inselflucht war lange ein typisches Phänomen: Mehr als eine Million Azoreaner leben in Amerika. Doch EU-Finanzspritzen und der beginnende Tourismus haben das geändert. "Die Lebensqualität ist hoch", sagt Rui Amen, der Besucher mit seiner Firma "Geo Fun" zu Vulkanseen und heißen Quellen, in botanische Gärten und auf richtig anstrengende Hiking-Touren führt. Das Naturparadies Azoren: Von Jeeptouren über Reiten, Surfen, Tauchen, Mountainbiking bis Kanufahren ist alles möglich.
Entspannen kann man dann im "Peter Café Sport". Holztische, Rasta-Typen, Tresen, Wimpel: Die kleine Kneipe am Yacht-Hafen von Horta auf Faial kennt jeder Segler der Welt. Hier gibt’s in dritter Generation fangfrische Thunfischsteaks (für zehn Euro) mit Seemannsgarn von tausenden Atlantik-Seglern (gratis).
Beim besten Gin Tonic des Atlantiks darf dann fleißig spekuliert werden: Befinden sich die Azoren tatsächlich in einer geografischen Randlage oder - mit Direktflügen nach Düsseldorf, Milan, Helsinki und Boston - nicht eher im Zentrum der Welt?