In Jerusalem steht für den Glauben die Zeit still
Eine Israel-Reise in die Vergangenheit: Wer in Mea Shearim unterwegs ist, bekommt besondere Einblicke.
Jerusalem. Der Zusammenstoß am Jaffa-Tor fühlte sich an wie der Aufprall gegen eine Wand, obwohl Itzik Stein gepuffert ist wie eine Figur aus dem "Fiddler on the Roof". Trotz sommerlicher Temperaturen trägt er einen schwarzen Mantel mit Schärpe, schwarze Hosen, in lange schwarze Socken gesteckt, und auf die schwarze Kippa hat er einen schwarzen Hut gestülpt. Seine Schläfenlocken kräuseln sich auf Kinnhöhe, und sein Gesicht ist verdeckt vom grau melierten Bart.
Itzik hat sich nicht umgeschaut beim schnellen Laufen, an den Händen hält er verkrampft zwei Kinder: Links den halbwüchsigen Sohn Nathan, rechts die kleine Tochter Tal.
"Schabbes, Schabbes", entschuldigt er sich auf Jiddisch. Der Sabbat ist schuld, dass Itzik es eilig hat. Bevor er mit seiner Familie am Freitag in der Abenddämmerung in eine spirituelle Stimmung versinkt, will er mit den Kindern zur Klagemauer in der Altstadt. Beten zu Gott.
Auf dem Weg dorthin schaut er kaum auf, am höchsten Tag der Woche will er keinem Gojim (Heiden) in die Augen blicken.
40Minuten vor Sonnenuntergang werden seine Frau und die anderen fünf Kinder Kerzen anzünden. Das Abendessen steht auf dem Tisch, es ist feierlich. Sind die Kinder im Bett, wird das Paar zum ehelichen Beischlaf übergehen, das ist den Haredim vorgeschrieben.
Der Samstag wird in völliger Ruhe, fast wie in Schockstarre, verbracht. Kein elektrischer Schalter wird betätigt, keine Herdplatte angemacht und Toilettenpapier liegt in Streifen bereit, damit niemand es von der Rolle abreißt. Bis zum Abend, an dem die drei Sterne am Himmel zu sehen sind, ist für einen frommen Juden jede Aktivität tabu.
Was kann der Jerusalem-Tourist im Stadtviertel Mea Shearim erleben? An der Kreuzung Strauss Street, Khasanovits und Khayei Adam Street tritt er durch eine Zeitschleuse in eine versunkene Welt, die des jüdischen Schtetl in Osteuropa im 19.Jahrhundert. Unglaublich, dass es diese Sphäre noch gibt, in der züchtig gekleidete Menschen herumlaufen und keine Miniröcke oder Dekolletés zu sehen sind. Das ist hier verpönt.
Man kann die Atmosphäre aufnehmen, sollte aber die Kamera in der Tasche lassen. Die Straßen sind verwinkelt und in keinem guten Zustand. Müll häuft sich, und der Wind treibt Plastiktüten hindurch. Es gibt keine Cafés und keine Restaurants. Nur kleine, verstopfte Geschäfte.
Im Angebot sind auffällig viele Hüte und Haarteile aus New Yorks Stadtteil Brooklyn. Männer tragen Hüte, verheiratete Frauen Perücken. Ihr Haar darunter ist kurz geschoren, und sie zeigen es nie einem fremden Mann. "Das Haar einer Frau weckt Begierde", heißt es im Talmud. In den Höfen der Haredi-Wohnblocks senken sie den Blick, während Kinder neugierig die Fremden anstarren.
Der gesamte Stadtteil besteht aus Anlagen des sozialen Wohnungsbaus, die nach innen schützen. In verschachtelten, über Treppen und Rampen zugänglichen Höfen begegnen sich die Einwohner, es gibt bescheidene Spielplätze und Bänke. Familien mit bis zu zehn Kindern steht eine Vier-Zimmerwohnung zu.
Während die verhüllten Frauen die Familien versorgen, streben ihre Männer in die Gebetsschulen. Dort treffen wir Itzik Stein wieder, unter dessen Jacke die Zizit, rituelle Gebetsfäden, flattern. In einer Mischung aus altertümlichem Deutsch und Englischbrocken erzählt er vom Alltag der Frommen. Er ist einer von Tausenden Religionslehrern in Jerusalem. Er liest keine Zeitung, in seiner Wohnung gibt es weder Fernsehen noch Computer, niemand in der Familie hat ein Handy.
Auch die sieben Kinder sind altmodisch gekleidet: die Mädchen in knöchellangen Kleidern, die Jungen mit Kippa, mit einer Klammer am Haarschopf festgemacht. Sie besuchen, nach Geschlechtern getrennt, ganztägig die Jeschiwa. In der sechsten Klasse endet der Mathematik-Unterricht. Englisch und Biologie standen nie auf dem Stundenplan. Die Haredim, eine der großen Gruppen unter den Ultra-Orthodoxen, nehmen die Regeln ernst. Übersetzt aus dem biblischen Hebräisch heißen sie "die vor Gott zittern".
Die Siedlung wurde 1840 gegründet von polnischen und russischen Juden, die vor Pogromen in ihren Ländern geflohen waren. Der Stadtteil ist "von Gebeten und Träumen gesättigt", wie der Dichter Yehuda Amichai schrieb.
Osteuropäische Haredim besaßen einst in Litauen, Galizien (heute: Ukraine) und Polen bedeutende Thora-Schulen, rund vier Fünftel von ihnen wurden in Vernichtungslagern des NS-Regimes ermordet. Keine jüdische Opfergruppe zahlte einen höheren Blutzoll. Deshalb wurden die Haredim nach Gründung des Staates Israel privilegiert: 1954 erließ man ihnen den Wehrdienst. Sie erhalten Sozialhilfe, weil die Männer bis zu 14 Stunden am Tag lesen, lehren und beten, während das Frauen untersagt ist.
Stundenlang erörtern Männer scholastische Anordnungen des Talmud, eines enzyklopädischen Werks, das Auskunft gibt über Kindererziehung, Behandlung von Krankheiten, Eheleben bis zum Verhalten bei der Menstruation. Aus der Randgruppe ist wegen ihrer explosiven Vermehrung ein Drittel der Bevölkerung von Jerusalem geworden.
70 Prozent der männlichen Haredim gehen keiner Arbeit nach, die ihren Lebensunterhalt sichert. Die einzige Verdienerin in der Familie ist meist die Frau.
Shlomit Stein ist Krankenschwester, lebt im ständigen Ausnahmezustand zwischen Job, Kindern und Haushalt. Trotz ihrer notorischen Erschöpfung nimmt sie eine hochgeachtete Stellung unter ihresgleichen ein, denn sie ist die Frau eines Gelehrten. Die Bewohner von Mea Shearim haben außerhalb ihres Viertels kein gutes Ansehen, sie gelten in der säkularen israelischen Gesellschaft, aber auch unter orthodoxen Juden als Schmarotzer.
Dabei leben mehr als die Hälfte von ihnen unter der Armutsgrenze, Großfamilien stehen oft nur 500 Euro im Monat zur Verfügung. Itzik Steins Kinder tragen gebrauchte Kleidung, besitzen kaum Spielzeug, kennen kein Kino. Die Solidarität unter den Haredim ist überlebensnotwendig: Küchengerät, Betten, Wohnungseinrichtungen, Kinderwagen, Bücher werden weitergegeben. Ultra-religiöse Männer befassen sich nicht mit dem Morgen.
Sie leben ganz im Jetzt, alles andere muss sich fügen. Es sind die Mütter und Töchter, die das praktische Leben organisieren: Sie helfen einander, kaufen für Nachbarn ein und benutzen gemeinsame Waschmaschinen.
Zwar ist "ein Haus voller Kinder süßer als Honig", heißt es im Talmud, aber auch drückend eng.