Meinung Noch sollte die Kanzlerin nicht allzu laut jubeln
Alles hat ein Für und ein Wider. Angesichts ihrer Dimension gibt es in der Flüchtlingskrise ja keine politische Entscheidung mehr, die eindeutig und abschließend überzeugend ist; der nicht argumentativ etwas entgegengesetzt werden kann.
Vor allem dann nicht, wenn der Schlüssel für den möglichen Beginn einer Lösung in einem Land wie der Türkei liegt.
Menschenrechte, Pressefreiheit, Demokratie, das alles interessiert Ankara immer weniger. Deswegen gleicht die enge Kooperation von Europäischer Union und Türkei einem kühnen Unternehmen, das viele mit Recht erschaudert und verärgert.
Angela Merkel vertraut darauf, dass jetzt endlich das Europa der Egoisten zurück zu einem Europa der Vernünftigen gefunden hat. Die jüngsten Gipfeltage werden sie darin sicherlich bestärkt haben. Zwar haben die größten Wirkungen in der Flüchtlingspolitik bislang andere erzielt, nämlich die Länder, die ihre Grenzen dicht gemacht haben.
Das hat dazu geführt, dass schon seit Wochen kaum noch Asylsuchende über die Balkanroute nach Deutschland kommen, ihre Zahl somit "spürbar reduziert" worden ist, wie Merkel und die CDU stets sagen und fordern. Doch auch wenn die Kanzlerin diese Art und Weise der Grenzpolitik als anti-europäisch empfindet und kategorisch ablehnt, so ist ihr dadurch zweifelsfrei die Zeit verschafft worden, um die sie die Bürger zur Bewältigung der Flüchtlingskrise immer gebeten hat.
Jetzt liegt die europäische Lösung mit Hilfe der Türkei auf dem Silbertablett. An ihr hat Merkel mit unglaublicher Beharrlichkeit gearbeitet. Der wahre Erfolg wird sich aber erst dann zeigen, wenn die Pläne tatsächlich realisiert werden - und letztendlich funktionieren. Darauf kommt es an. Noch sollte die Kanzlerin daher nicht allzu laut jubeln.
Denn vergessen werden sollte nicht: Ankara hat sich in der Vergangenheit keineswegs als verlässlicher Partner der EU gezeigt - und umgekehrt war das genauso. Völlig unklar ist, ob das Erdachte wie die Hin- und Her-Verschickung von Flüchtlingen in der Praxis klappen kann. Womöglich bereits ab Sonntag - ohne, dass dafür Infrastruktur und Personal schon ausreichend installiert wäre.
Auf vielem steht zudem das Label "freiwillig", was schon lange kein europäisches Qualitätssiegel mehr ist. Wer heutzutage in diesem Europa freiwillig etwas übernehmen soll, auch finanziell, der macht es in der Regel gar nicht. Es müsste also schon viel an europäischer Vernunft über Nacht zurückgekehrt sein, wenn nach dem Gipfel der fatale Grundsatz, heute in Brüssel vereinbart, morgen daheim schon vergessen, nicht mehr gelten soll.
Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Nicht nur um Europas, sondern um der Sache willen, um die es geht: Den Flüchtlingsansturm human zu reduzieren und ihn für alle beherrschbar und solidarisch zu steuern. Im Sinne der Flüchtlinge, aber auch der Europäer.