Meinung SPD-Vorsitz: Linke Träume und eine konservative Basis

Meinung · Nach den vielen Wahlniederlagen gönnen sich die Sozialdemokraten seit Wochen so etwas wie eine Reha-Maßnahme. Die Castingtour der Kandidatenduos für den Parteivorsitz läuft erstaunlich gut, auf den Regionalkonferenzen weht ein Hauch von Aufbruch durch die Säle.

Rolf Eckers

Foto: Sergej Lepke

Die Sehnsucht der Partei nach Mitreden, nach ordentlichem Umgang miteinander und einer solidarischen Gesellschaft wird befriedigt. Und es gibt Überraschungen: Finanzminister Olaf Scholz, klar das politische Schwergewicht unter den Bewerbern, und seine Teampartnerin Klara Geywitz können sich ihres Sieges alles andere als sicher sein.

Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken entpuppen sich als ernsthafte Konkurrenten. Der ehemalige NRW-Finanzminister und die Digitalpolitikerin aus dem Nordschwarzwald kommen gut an bei den Versammlungen. Und sie haben mächtige Mitstreiter. Insbesondere steht der NRW-Landesverband hinter dem Duo. Wie groß die Zustimmung für Walter-Borjans/Esken ist, wurde am Wochenende beim SPD-Landesparteitag in Bochum erneut deutlich. Zudem hat das Gespann die Jusos an seiner Seite, allen voran Kevin Kühnert. Borjans punktet vor allem mit seinem Wissen beim Thema Steuern und Gerechtigkeit. Dass er einst Jagd auf Steuersünder gemacht hat und mit dem Ankauf von Steuer-CDs mehr als sieben Milliarden Euro in die Staatskasse holte, bringt Walter-Borjans bis heute Bonuspunkte. Der 67-Jährige will raus aus der großen Koalition, rüttelt an der schwarzen Null und fordert die SPD auf, dem neoliberalen Denken zu entsagen. Mit diesen klaren linken Positionen profiliert er sich als Gegenspieler von Olaf Scholz, der für Groko und einen ausgeglichenen Haushalt steht.

Trotzdem ist das Rennen um den SPD-Vorsitz völlig offen. Niemand weiß, wie weit die Parteibasis wirklich nach links will. Die knapp 425 600 Mitglieder ticken vermutlich konservativer, als viele denken. Erinnert sei an den Mitgliederentscheid im Frühjahr 2018.

60 Prozent der Genossen stimmten für die schon damals ungeliebte große Koalition. Gut möglich, dass „Rot Pur“ im Sinne der NRW-SPD bundesweit eher abschreckt: Die Abschaffung von Hartz IV zugunsten einer sanktionsfreien Grundsicherung, ein Mindestlohn von zwölf Euro und eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung gehen vielen Sozis zu weit. Zwingend hilfreich muss diese Skepsis vor einem allzu linken Kurs für Scholz aber nicht sein. Weil der Vizekanzler zu sehr an der Groko klebt, könnte ein drittes Duo den Sprung an die Parteispitze schaffen: Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und Petra Köpping stehen für Wandel light – eine typisch sozialdemokratische Lösung.